Wie Erwartungen mein Leben ficken

Wie lässt man eine Stadt los, in der man sein ganzes Leben verbracht hat?

Wie lässt man einen Lebensstil los, der voller Freude, Freiheit und Wachstum war?

Wie lässt man einen Traum los, in dem man sich als eine glückliche Person in seiner gewohnten Umgebung mit dem gewohnten Job und den gewohnten Menschen gesehen hat?

Ich bin am Dienstag umgezogen. Und zwar nicht in meine Nachbarstadt, sondern ins Nachbarbundesland. Und auch, wenn ich nicht komplett aus der Welt bin, fühlt es sich beim Kistenauspacken manchmal so an. 

Es fühlt sich an, als hätte ich die Lisa-Version von mir, die stundenlang im Wald sitzt, über Baumstämme läuft und Blätter hochwirbelt, verraten. 

Es fühlt sich an, als hätte ich meine Karriere als Lokalredakteurin, die dank Altersstruktur und Personalmangel auf dem besten Weg war, zerstört.

Es fühlt sich an, als würde ich alle Chancen auf Freundschaften, Abenteuer und Glücksmomente, die ich mir in meinem bekannten Umfeld gewünscht habe, endgültig verpassen.

Aber da entsteht doch jetzt was Neues, versuche ich mir einzureden. Neue Jobperspektiven, neue Bekanntschaften, neue Wälder. Letzteres ist allerdings wohl wirklich aussichtslos. Mein neuer Job hat mir ein original verpacktes IPhone 15 Pro Max gebracht, aber nicht das Gefühl, Gutes mit meiner Arbeit zu bewirken, wie ich es von früher kannte. Und die Bekanntschaften? Die sind hier genauso rar wie die Sportvereine.

Und so kommt es, dass ich Freitagabend mutterseelenallein und von allen guten Geistern verlassen zwischen Umzugskartons sitze und einen Nervenzusammenbruch habe. 

Irgendwie habe ich mir meinen Neuanfang schöner vorgestellt. Leichter. Freudiger. Freier. Und da liegt das Problem. Ich hatte Erwartungen an meinen Neuanfang. Ich habe meinem Neuanfang nicht erlaubt, einfach nur zu sein. Sein reichte mir nicht. Ich wollte Leichtigkeit von meinem Neuanfang. Freude. Freiheit. Und verpasste dadurch, im Moment zu sein. Denn Sein reichte ja nicht. Ständig arbeitete ich an der Leichtigkeit – und verpasste sie dadurch. Ständig arbeitete ich an der Freude – und verpasste sie dadurch. Ständig arbeitete ich an der Freiheit – und verpasste sie dadurch.

Leichtigkeit, Freude und Freiheit lassen sich nicht erzwingen, erarbeiten, planen. Ich bekomme sie nicht durch Leistung, Kontrolle oder Druck. Und doch tat ich so. Ich tat so, als sei ein Neuanfang an all das geknüpft. Und bekomme jetzt dafür die Quittung.

 Seit Tag Eins des Neuanfangs will ich eigentlich einfach nur zurück nachhause. An meinem ersten Arbeitstag habe ich so heftig geweint, dass ich dachte, mein Körper schafft die Emotion nicht. Obwohl ich den Job selbst ausgewählt und mich wochenlang darauf gefreut hatte, will ich nur noch zurück in mein altes Arbeitsleben. In der Wohnung, in die ich jetzt eingezogen bin, fühle ich mich so unwohl, dass ich den Mietvertrag sofort wieder kündigen würde, wenn ich alleine darin wohnen würde. Ich habe Rückfälle in ein altes Verhalten, was mich langsam, aber stetig zerstört. 

Ich komme auf meinen Alltag klar, ich komme auf mein Leben klar, ich komme auf meine Entscheidungen klar. Und es könnte wirklich alles so viel schlimmer sein. Ich bin dankbar, denn ich habe ein Dach über dem Kopf, warme Kleidung und Eltern, die mich lieben. 

Die Wahrheit ist aber auch: Es ging mir letzte Woche so viel besser als heute. 

Meinem Neuanfang wohnte kein Zauber inne. Er war nicht voller unbeschwerter Schritte, fröhlich und sorglos. Er war scheisse schwer. Und ist es immer noch.

Wer loslässt, hat nicht immer beide Hände frei. Ohne Heimatstadt, altem Job und Freundschaften fühle ich mich gefangen. Gefangen in mir selbst. Und da liegt auch das Geschenk meines Neuanfangs. Erst jetzt sehe ich, dass ich meine eigene Gefängniswärterin bin. Nur die Schlüssel, die finde ich nicht.

Dieser Text hier hat keine Botschaft, kein Learning, keine Inspiration. Er will nur sagen: Nicht jeder Neuanfang ist schön.

Wenn wir die Erwartung, dass ein Neuanfang immer schön sein muss, loslassen, entdecken wir vielleicht was Schönes außerhalb des Neuanfangs. Vielleicht was Schönes in uns.

Ich habe noch nichts gefunden. Aber ich habe noch nicht aufgehört, zu suchen.

Und immerhin habe ich einen Neuanfang gewagt. Heute Abend kann ich mir vieles vorwerfen. Aber nicht, dass ich es nicht versucht habe.

4 Antworten

  1. Oh ! Ich finde Inspiration in deinem Text. 🫶

    Ich lerne auch gerade, dass nicht jeder Neuanfang, in meinem Fall eine unerwünschte Veränderung, schön ist.

    Aber Schönes darin oder in mir (uns) zu entdecken, ist ein wundervoller Gedanke. 🙏

  2. Liebe Lisa, vertrau dir und deiner Entscheidung. Neues kann sehr überforderrn. Na und? Das darf es dich doch. Nimm es, wie es ist. Danke für deinen Text. Er lässt mich selbst reflektieren.❤️

  3. Loszulassen bedeutet nicht immer zu fallen. Loslassen bedeutet, sich eine Chance zu geben, etwas Neues zu greifen. Loslassen bedeutet Mut. Aber loslassen ist nie einfach. Das waren sehr starke Worte Lisa. Ich sehe dich. Ich sehe, dass du reflektierst und ich sehe aber auch Besserung in naher Zukunft, weil ich dich als starken Menschen einschätze. Gib deinem neuen ich die Chance, sich zu verwirklichen und gib dir die Zeit, Wurzeln zu schlagen. Kein Setzling spriest direkt in den Himmel.

    Alles Gute für dich.

  4. Hallo Lisa,
    in einem noch nicht gemütlich eingerichtetem und eingewohntem Zuhause ist es schwer, glücklich zu sein. Das 1. x allein an einem neuen, fremden Ort: da darf man auch mal weinen und trauern um das, was man zurückgelassen hat! Das ging und geht vielen so! Bleibe bei Dir, gib Dir Zeit – Du schaffst das! Und liebe Menschen gibt es überall, Du wirst sie treffen! Herzliche Grüße, Heike

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