Wie ich mich jeden Tag ein bisschen mehr gut genug fühle

Ich erwarte von mir, einen perfekten Körper zu haben. Keine Falte, kein Speckröllchen, keine gegeneinander klatschenden Oberschenkel. Ich erwarte von mir, so zu aussehen wie mit 16, obwohl ich jetzt 10 Jahre älter bin. Haare bis zum Po, Sixpack, Lücke zwischen den Oberschenkeln. Knackpo, kein Haar an der falschen Stelle, kein Gramm Fett zu viel. Ein schöner Körper hat eben seinen Preis, denke ich und erwarte von mir entsprechendes Verhalten. Maximal 1000 Kalorien am Tag, besser 800. 3-4 Liter Wasser für Haut und Stoffwechsel. Dazu mindestens 5 Mal die Woche Sport, am liebsten mehr. 20.000 Schritte pro Tag sind ein Muss, drunter mach ich es nicht. Protein ist wichtiger als mit jemandem gemeinsam essen, zumindest wenn ich ordentlich Krafttraining mache. Überhaupt ist gemeinsame Zeit nur ein Bonus, den ich mir erlauben kann, wenn Arbeit, Bewegung und Weiterentwicklung erledigt sind. Also nie. Denn es gibt immer einen Podcast, den ich noch nicht gehört habe. Eine Fähigkeit, die ich noch nicht perfektioniert habe. Ein Ziel, das ich noch nicht erreicht habe. Hinsetzen und Meditieren scheint wichtig zu sein für erfolgreiche Leute. Aber da bin ich noch nicht. Ich bin noch nicht erfolgreich, also kann ich auch nicht nichts tun. 

Ich erwarte von mir, meine Finanzen perfekt im Griff zu haben. Immer genug da zu haben für einen spontanen Bankrott. Ich erwarte von mir, die perfekte und schnellste Arbeitskollegin dieses Planeten zu sein. Immer freundlich, immer hilfsbereit und zur Stelle. Ich erwarte von mir, auf jede Frage sofort eine Antwort zu wissen. Ich erwarte von mir, jedes Problem lösen zu können. Ich erwarte von mir, die perfekte Tochter zu sein und nie der Grund für Kummer zu sein. Ich erwarte von mir, zu 100 Prozent präsent zu sein in jedem Moment. Ich erwarte von mir, meine Gedanken im Griff zu haben und das Gedankenkarussell schnell stoppen zu können. Ich erwarte von mir, mit so wenig Schlaf wie möglich so viel Leistung wie möglich erbringen zu können. Ich erwarte von mir, nicht nur einen Plan A für mein Leben zu haben, sondern mindestens einen Plan Z. Ich erwarte von mir, jedem Menschen mit Liebe zu begegnen. 

Ich erwarte von mir, auf jedes erdenkliche Horrorszenario vorbereitet zu sein. Ich erwarte von mir, mich allein in jeder Situation durchschlagen zu können. Ich erwarte von mir, niemandem zur Last zu fallen. Ich erwarte von mir, Ordnung und Struktur zu halten. Ich erwarte von mir, dass es bei mir immer aufgeräumt ist und ich den Müll sofort rausbringe. Ich erwarte von mir, das zu erreichen, was ich mir vorgenommen habe.

Ich erwarte von mir, dass ich mein Leben im Griff habe. Ich erwarte von mir, dass ich immer pünktlich bin. Ich erwarte von mir, dass ich alle Deadlines einhalte, im besten Fall sogar übertreffe. Ich erwarte von mir überdurchschnittliche Ergebnisse. 

Warum?

Weil Durchschnitt nicht reicht. Ich bin zu wertlos für den Durchschnitt. Ich bin zu schlecht für den Durchschnitt. Ich bin zu minderwertig für den Durchschnitt. Ich bin nicht gut genug. Das versuche ich damit auszugleichen, dass ich überdurchschnittliche Ergebnisse erziele. 

Es reicht nicht, dass ich Vollzeit arbeiten gehe. Ich brauche auch noch 2 Nebenjobs, um meine Minderwertigkeit auszugleichen.

Es reicht nicht, dass mein Körper nur im Normalgewicht ist. Er muss dabei auch noch aussehen als sei ich von Beruf Fitnessmodel.

Es reicht nicht, dass ich nur versuche, jedem Menschen in Liebe zu begegnen. Es muss mir auch ausnahmslos gelingen.

Ich weiß schon, dass jeder Mensch gleich viel wert ist. Trotzdem fühle ich mich minderwertig, wertlos, unterlegen. Mehr ist mehr ist meine Devise.

Natürlich stressen mich meine Erwartungen. Ich stresse mich selbst. Niemand macht mir den Druck. Das bin ich selbst. Niemand steht mit einer Peitsche hinter mir und sagt: Du musst jetzt noch 15.000 Schritte gehen. Das bin ich selbst. Niemand steht vorm Kühlschrank und sagt: Den Käse darfst Du jetzt nicht essen, der ist nicht drin in Deinen Kalorien. Das bin ich selbst. Niemand erwartet von mir die perfekte finanzielle Lösung für all meine Probleme in der Gegenwart und in der Zukunft. Das bin ich selbst.

Warum?

Es mangelt mir an nichts. Ich habe ein Dach über dem Kopf. (Vielleicht bald ein anderes, aber Dach ist Dach.) Ich habe mir einen Job gesucht, den ich machen will und ich habe ihn bekommen. Ich habe wundervolle Freunde. Ich habe eine noch wundervollere Beziehung. Ich habe genug. Ich habe mehr als genug.

Aber ich fühle mich nicht gut genug. Ich fühle mich nicht gut genug für mein Leben. Ich fühle mich nicht gut genug für das Leben, dass ich mir aufgebaut habe. Ich erwarte Perfektion von mir, um mich gut genug für mein Leben zu fühlen.

Und all diese Erwartungen lasse ich heute ein Stückchen mehr los. Ich erwarte nicht, diese Erwartungen sofort loszulassen. Ich erwarte nicht, diese Erwartungen perfekt loszulassen. Ich erwarte, dass ich es ein Stückchen schaffe. Weil nichts erwarten, das kann ich (noch) nicht. 

Und das ist ok. Ich bin ok. Ich fühle mich ein Stückchen mehr gut genug als gestern.

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