Ich habe Angst, Menschen zu verletzen. Wie gehe ich mit der Mauer um, die ich hochgezogen habe? Was ist der Vorteil daran, andere zu verletzen? Und kann ich das überhaupt?

Fakt ist: Was ein Mensch tut, ist meist nicht die Ursache für das, was ein anderer Mensch fühlt. Sondern lediglich der Auslöser für ein Gefühl. Dieselbe Handlung kann jemanden verletzen – und jemand anderen nicht. Trotzdem habe ich Angst, Menschen zu verletzten.

Ich hatte als Jugendliche den Spitznamen „Eiskönigin“. Weil ich komplett grimmig durch die Welt gelaufen bin und dabei kaum ein Hallo herausgepresst habe. Auf andere wirkte ich kühl, distanziert und unerreichbar. Innerlich hatte ich einfach nur Angst, jemanden zu verletzen. Ich hatte Angst, mein Hallo in der falschen Tonlage auszusprechen und so jemanden zu verletzen. Ich hatte Angst, die falschen Worte zu sagen oder jemandem mit „Wie geht es Dir?“ zu nahe zu treten. Ich hatte Angst, dass sich die Menschen nach dem Kontakt mit mir schlechter fühlen als vorher.

Es ist mit den Jahren besser geworden. Ich bin besser geworden. Wenn ich auf Menschen treffe, schicke ich ihnen zuerst eine riesige Portion Liebe. In Gespräche gehe ich mit der Intention, Liebe zu geben. Ich vertraue mir und dem Leben, dass ich das Passende sage. Dass die passenden Worte Liebe und Wut gleichermaßen einschließen. Dass die passenden Worte auch Verletzung einschließen.

Warum kann es gut sein, Menschen zu verletzen?

Solange es nicht vorsätzlich geschieht, sehe ich durchaus Vorteile darin, Menschen zu verletzen. Wenn ich mir erlaube, mich voll und ganz bei einer anderen Person auszudrücken und mein Gegenüber dadurch verletzt ist, können wir daran wachsen.

Erstens bringt es uns dazu, unsere Kommunikationsfähigkeit zu verbessern. Mein Gegenüber teilt mir mit, dass ich ihn verletzt habe. Ich lerne daraus, wie ich besser mit ihm kommunizieren kann.

Zweitens kann es unsere Beziehung vertiefen. Wenn ich jemanden unabsichtlich verletzt habe und er mir dies mitteilt, lerne ich den Menschen näher kennen. Und ich kann entscheiden, wie ich darauf reagiere. Ob ich liebevoller und sanfter mit ihm umgehe.

Drittens sehen wir schnell, ob wir zueinander passen. Wenn mir mein Gegenüber mitteilt, dass er sich von meinen Worten verletzt fühlt, kann ich mich dazu entscheiden, dass ich keinen Kontakt mehr möchte.

Viertens lernen wir viel über uns selbst, wenn wir aus einer liebevollen Intention heraus nichts mehr zurückhalten, was in uns ist. Wir lernen unsere Wünsche, Ängste, Bedürfnisse kennen. Wir erfahren, wie es sich anfühlt, Themen nicht mehr länger in uns reinzufressen. Wir lernen, dass wir uns selbst halten können. Und vielleicht erfahren wir auch, wie unser Gegenüber uns hält.

Die Mauer zwischen mir und anderen

Auch wenn es viele Vorteile gibt, meine Angst, Menschen zu verletzen, loszulassen, habe ich immer noch eine Mauer zwischen mir und anderen aufgebaut. Das ist nicht nur unfair mir selbst gegenüber, weil ich mich selbst der Erfahrung beraube, tiefe Beziehungen zu erleben und gehalten zu werden. Es ist auch unfair meinen Mitmenschen gegenüber. Sie sind mir wohlgesonnen, lieben mich vielleicht sogar. Doch ich erlaube ihnen nicht, mich voll und ganz zu sehen, mich voll und ganz kennenzulernen, mich mit allem zu lieben, was mich ausmacht.

Ich präsentiere ihnen eine Version von mir, von der ich glaube, dass sie mit ihr umgehen können. Doch wie kann ich mich eigentlich erdreisten, glauben zu wissen, wieviel mein Gegenüber aushalten kann?

Da ist noch was anderes. Ich habe auf jeden Fall Angst, Menschen zu verletzen. Beziehungsweise vor den Konsequenzen. Dass ich Menschen unglücklich mache. Das steht an erster Stelle. Dahinter liegt aber noch etwas anderes. Ich habe Angst, Menschen zu verlieren. Anders ausgedrückt: Ich habe Angst, selbst verletzt zu werden. Ich weiß natürlich, dass mir kein Mensch gehört und dass ich deswegen auch keinen verlieren kann. Und natürlich habe ich – wie die meisten von uns – auch schon tausend Kontaktabbrüche erlebt. Warum also vor etwas Angst haben, was ich schon tausendmal erfahren und überwunden habe? Genauso stimmt aber auch: Ich habe schon Menschen verletzt. Und sie haben es wiederum auch alle überlebt.

Ich bin Einzelkind. Wirkliche Freundschaften hatte ich in meiner Kindheit und Jugend nicht. Ich war die meiste Zeit meines Lebens allein. Auch wenn ich einige Phasen der tiefen Einsamkeit hatte, habe ich gelernt, mich mit mir selbst zu arrangieren. Für mich da zu sein, wenn ich überfordert bin. Freude allein zu finden. Ich bin vielleicht noch nicht meine beste Freundin, aber ich bin auch nicht mehr meine beste Feindin.

Kann ich überhaupt Menschen verletzen?

Gleichzeitig habe ich in Kontakt mit Menschen schon viel Schmerz erlebt. Aus diesem Schmerz heraus habe ich mich dazu entschieden, auf Distanz zu gehen und lieber zu schweigen als mich mitzuteilen. Ich habe mich auch dafür entschieden, die Worte der anderen nicht mehr so nah an mich ranzulassen. Es war meine Entscheidung. Ich allein entscheide, wie nah ich Menschen und ihre Worte an mich heranlasse. Ich entscheide, ob ich mich berühren lasse oder eine Mauer hochziehe. Wie viel Liebe mir dadurch entgangen ist…(Ich vergebe mir, ich vergebe mir, ich vergebe mir…). Genauso wie ich entscheide, entscheidet aber auch mein Gegenüber. Letztlich entscheidet mein Gegenüber, ob er sich von mir verletzt fühlt oder nicht. Das ist nicht meine Entscheidung, sondern seine. Deswegen kann ich eigentlich direkt aufhören, Angst zu haben, andere zu  verletzen.

Und vielleicht liegt gerade genau da mein Wachstumspotential: In meiner bewussten Entscheidung. Ich entscheide mich bewusst dafür, die Worte anderer an mich ranzulassen. Die Liebe und die Wut. Ich entscheide mich bewusst dafür, dass meine Worte bei anderen landen können. Meine Worte haben eine Macht und das ist etwas Wundervolles. Wenn meine Worte nicht verletzten könnten, könnten sie auch nicht heilen. Wenn mein Worte nicht verletzten könnten, könnten sie auch nicht lieben. Ich kann andere verletzen. Ich habe heute ein Stückchen weniger Angst davor als gestern. Weil mir bewusst geworden ist, dass ich genauso heilen und lieben kann. Ich entscheide.

Und im zweiten Schritt denke ich Folgendes: Ich lasse den Menschen los, den ich Angst habe, zu verletzen. Und die Vorstellung, die ich von dem Menschen habe.

Eine Antwort

  1. Liebe Lisa, ich kann dich so gut fühlen und deinen Text so gut nachvollziehen, denn so ging es mir auch über viele Jahre und auch immer heute noch Angst. Davor andere Menschen zu verlieren, lässt uns nicht mutig nach vorne gehen und damit auch nicht das schöne. Das neue entdecken und verletzlichkeit zu zeigen und zuzulassen bei sich selbst und bei anderen ist doch eines unserer grössten Geschenke. Danke für deinen Beitrag.

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