Ein Beitrag über Leben und Tod und das Dazwischen

Was wäre, wenn ich jetzt tot umfalle? Wenn ich von einen auf den anderen Moment aufhöre, zu
leisten, zu denken, zu atmen? Lange Zeit fand ich es unanständig, mir diese Frage zu stellen. Sterben
ist doch irgendwie egoistisch. Wenn wir leben, sitzen wir alle im selben Boot. Mit dem Tod steigen wir
aus – wer weiß, wohin, aber zumindest gibt es eine Veränderung. Eine Veränderung, die viele
Menschen im 9 to 5, in ihrer Beziehung, in ihren Gedanken, nicht schaffen. Aber bin ich doch dankbar
für mein Leben und es könnte wirklich alles noch viel schlimmer sein.

Als Kind dachte ich, dass ich nicht 18 Jahre alt werde. Ich konnte mir meine Zukunft als Erwachsene
nicht vorstellen. Am Abend vor meiner Volljährigkeit war ich der festen Überzeugung, dass es um
Mitternacht vorbei sein würde. Seitdem ist jeder weitere Tag, an dem ich meine Augen aufmache, ein
Wunder für mich. Vielleicht bin ich in einem früheren Leben als Kind gestorben. Vielleicht schwebe
ich auch immer noch zu viel über dem Boden, als mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen.
Es gab eine Zeit, in der ich nachts aufwachte und Angst hatte, dass mein Herz zu schlagen aufhören
würde. Eine Zeit, in der ich Angst vor Karotten und einer Sportpause hatte. Eine Zeit, in der meine
Haare ausfielen, meine Periode ausblieb und mein Puls viel zu niedrig war. Eine Zeit, in der ich keine
Angst vorm Sterben hatte. Denn ich wollte nicht mehr ich sein. Ich schämte mich für mein Aussehen,
für meine Gedanken, für mein ganzes Sein. Sterben schien mir die Lösung für all meine Probleme:
Wenn ich tot war, müsste ich nicht für einen Uni-Abschluss kämpfen, ich fiele anderen Menschen
nicht zur Last und ich hätte nicht 24/7 das Gefühl, fehl am Platz zu sein.

Von außen betrachtet akzeptierte ich meinen Körper nicht. Ich akzeptierte nicht, dass ich Bauchfett
brauche, um zu leben. Ich akzeptierte nicht, dass ich so klein war. Ich akzeptierte nicht, dass ich mit
einer gewissen Zahl auf der Waage nicht mehr lebensfähig war. Von innen betrachtet akzeptierte ich
mich selbst nicht. Die meiste Zeit wusste ich überhaupt nicht, wer ich im Inneren war. Ich war so
besessen auf mein Aussehen, dass ich meine innere Stimme unterdrückte. Und wenn ich mal was von
mir hörte, war es meist etwas Negatives. Ich sah nur meine Fehler. Jeden Rechtschreibfehler, jede
Minute, die ich zu langsam war, jede Aufgabe, für die ich keine Lösung hatte. Ich akzeptierte auch
mein Inneres nicht, weil ich meine Stärken und meine Liebe so tief in mir vergraben hatte, dass ich
mich nicht mehr daran erinnerte. Ich glaubte, sie seien nach meiner letzten Beziehung endgültig aus
mir herausgegangen. Ich wollte unsichtbar sein. Ich wollte nichts mehr fühlen. Ich wusste nicht, wer
ich bin. Deswegen will ich niemand sein. Versäumte Chancen. Vergessene Versprechen. Verlorene
Verbindungen. Irgendwann kam ein Tag, an dem ich sterben wollte. Nicht mit Tabletten oder einem
Messer. Ich fing einfach an, noch weniger als nichts zu essen. Die Angst vorm Tod hatte ich
losgelassen.

Meine Kontrolle, meinen Perfektionismus, die Meinung anderer – all das sind auch Dinge, die ich (viel
später) losgelassen habe. Loszulassen hat mir so viel geschenkt – hat mir meinen Lebenswillen
geschenkt. In diesem Augenblick hat es mir ihn jedoch genommen. Ich glaube, das Loslassen hat
Grenzen. Ich glaube, es ist wichtig, auch mal über diese Grenzen drüberzugehen. Das muss ja nicht
unbedingt bei der Todesangst sein. Wie wäre es bei der Angst, etwas Falsches zu sagen, eine Aussage
zu machen, die einfach drüber und zu viel des Guten ist? Nun, ich habe nun mal die Sache mit dem
Tod gewählt. Heute vergebe ich mir das. Ich habe keine anderen Möglichkeiten gesehen, doch heute
sehe ich mehr. Du hast nicht verloren, wenn Du über eine Grenze gehst. Du hast verloren, wenn Du
dort drüben bleibst.

Ich war sehr leer. Nicht nur in der Magengegend, auch in meinem Herzen. Es hat gedauert, bis ich
wieder etwas fühlen konnte. Erstmal nur Schmerz und Qualen. Irgendwann Trauer, Angst, Scham,
Schuld. Und dann kam die Wut mit der Verzweiflung. Sie brachte mein Blut nach so langer Zeit wieder
zum Kochen. Vielleicht habe ich mich unlebendig und ohnmächtig gefühlt. Und die Wut war das Erste,
das mich wieder in die Lebendigkeit gebracht hat. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, der Wut für die
Lebendigkeit zu danken und meinem Körper zu zeigen, dass ich mich auch auf anderen Wegen
lebendig fühlen kann. Doch was lässt mich lebendig fühlen außer der Wut, die mein Blut
zum Kochen bringt? Wiederum vergehen Monate und Jahre. Ich bin noch nicht angekommen, werde
vielleicht niemals ganz da sein. Aber da sind Momente, in denen ich zwischen 50 Musikern stehe, die
Trompeten und Trommeln in meine Ohren dröhnen und ich lautstark mitspiele. Und die kommen
dem schon sehr nahe.

Ich habe die Angst vorm Tod losgelassen und sie auch nicht mehr aufgenommen. Doch ich habe noch
etwas weiteres losgelassen. Etwas, was mich hierhin gebracht: Die Angst vorm Leben.

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar zu Katja Antwort abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert