Sagst Du: „Alle Menschen sind gleich“ und denkst und behandelst sie trotzdem (unbewusst) unterschiedlich? Tolerierst Du bei Deinem Lieblingsarbeitskollegen Unzulänglichkeiten, bei denen Du bei anderen Mitarbeiterin (innerlich) an die Decke gehst? Lebst Du nach dem Sprichwort: „Behandle die Putzfrau so wie den Chef“, doch bemühst Dich trotzdem (unbewusst) mehr um den Chef?

Unlängst hatte ich die Ehre, mit einem Pulitzer-Preisträger zu sprechen. Das ist sowas wie der Fußball-WM-Titel für Fotografen. Kai Pfaffenbach ist ein Mann, der sich von Fotos beim Kaninchenzuchtverein bis zur Beerdigung der Queen hochgearbeitet hat. In einem Moment fotografiert er den achtfachen Olympia-Sieger Usain Bolt, im nächsten begleitet er ukrainische Soldaten an der Front. Er hat Menschen aus nächster Nähe mit Goldmedaillen jubeln und mit Schüssen ins Herz sterben sehen. Seine Bilder erschienen in der New York Times und in der Hanau Post.

Im Gespräch sucht er direkt den Augenkontakt, lässt Lebensweisheiten beiläufig in seine berufliche Präsentation einfließen. Dann dieser eine Satz: „Ich bereite mich auf ein Spiel in der Kreisliga genauso vor wie auf ein Spiel in der Championsleague.“ Er komme mit der gleichen Ausrüstung, dem gleichen Respekt, der gleichen Motivation. Er schätze die Veröffentlichung in der Lokalzeitung genau so wie in der Washington Post.

Vielleicht hast Du auch schon gehört, dass große Persönlichkeiten jeden Menschen und jede Situation mit den selbem Respekt behandeln. Vielleicht sagst Du: „Jo Lisa, das mache ich doch auch.“ Gehst Du wirklich mit derselben Aufmerksamkeit an der Putzfrau vorbei wie an Deinem Chef? Bist Du bei der Putzfrau genauso offen für eine neue Lebenschance wie bei Deinem Chef? Ist es für Dich selbstverständlich oder versuchst Du, Dich künstlich zu bemühen?

Ich war früher sehr im Überlebensmodus (und ich ertappe mich auch heute noch dabei und manchmal sehe ich es bestimmt auch nicht). Wann immer ich unter Menschen bin, dachte ich zuerst: Wer ist mein Freund, wer ist mein Feind? Und als Zweites: Mit wem muss ich mich gutstellen, um weiterzukommen? Ich sah mich permanent bedroht von meinen Mitmenschen. Wenn mir jemand etwas nicht wegnehmen wollte, so wollte er mich am Vorankommen hindern. Ich versuchte mich anzupassen, bis ehrlich fast nichts mehr von mir selbst übrig war. Doch hättest Du mich gefragt, hätte ich immer gesagt: „Ich begegne allen mit demselben Respekt.“ Schließlich fühlte ich mit den Ausgestoßenen, den Missverstandenen, den Schüchternen. Ich war doch eine von ihnen. Und meine Chefs verabscheute ich doch nicht, ich war doch dankbar, dass ich den Job bekommen hatte. Ich redete mir das ein, doch auf Herzensebene war es nicht so. Nach außen war ich sehr zuvorkommend zu allen, versuchte immer hinzuschauen und zu helfen. Doch innerlich kategorisierte ich unbewusst. Guter Mensch, böser Mensch. Starker Mensch, schwacher Mensch. Kann mir helfen, kann mir nicht helfen. Ich sah mich in dem Konstrukt als bösen Menschen, weil ich zwar das Leid von jedem sah, es jedoch nicht nehmen konnte.

Bewerten, Schwarz-Weiße-Gedankenmuster, Angst vor Menschen…All das loszulassen trägt sicher dazu bei, wirklich sehen zu können, was ist. Wirklich mit derselben Motivation über den Putzplan und über die Gehaltserhöhung zu sprechen. Wirklich für jeden Kieselstein Ehrfurcht und Demut zu empfinden. An manchen Tagen bin ich da. An manchen nicht.

Du kannst beim Kreisligaspiel unglücklich sein und beim Championsleague-Finale. Es gibt Kreisligaspieler, die sind glücklicher als Profifußballer. Dein Gemütszustand hängt nicht von Menschen oder Situationen im Außen ab. Es hängt allein von Dir ab. Und Du bist nur eine Entscheidung von Dir entfernt. Eine Entscheidung für Dich. Immer wieder.

Loslassen ist nicht immer wörtlich zu nehmen. Manchmal bedeutet es für mich auch, einen neuen Weg zu finden, mit meinem Perfektionismus umzugehen. Oder mit meinen Bewertungen. Vielleicht hilft es mir gerade, zu bewerten. Okay, statt gut und schlecht werte ich jetzt mal in meinem Kopf, wie elegant die Person läuft. Oder ich zähle andere Fakten: Die Putzfrau hat 3 Mal Ähm gesagt, mein Chef 5 Mal. Interessant. Einfach mal was anderes machen ohne den Anspruch, dass es sinnvoll sein muss. Es klingt verrückt aus meinem Mund, ich weiß. Doch ich lasse meine Kreativität wieder ungehemmt ohne Ziel fließen. Ich will gerade wirklich nirgendwo ankommen. Ich will nur ausdrücken, was gerade da ist. Und das ist für mich irgendwie auch wie Loslassen.

Kai Pfaffenbach sagte übrigens noch etwas: „Seitdem ich ein E-Auto fahre, mache ich mehr Pausen. Früher bin ich von München nach Hanau einfach durchgefahren. Jetzt lade ich mein Auto zwischen Nürnberg und Würzburg. Komischerweise bin ich viel entspannter und habe keinen Zeitverlust.“ Das ist für Euch, ihr Workaholiker: Eine Mittagspause ist produktiver als keine Mittagspause.

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