Ich lasse die Lisa los, die ich vor einem Jahr war. Ich lasse die Lisa los, die ich diese Woche war. Ich lasse die Lisa los, die ich gern gewesen wäre. Ich lasse die Lisa los, die ich gern sein möchte. Ich lasse alle Versionen von mir los, die in der Gegenwart und in der Zukunft liegen. Dann habe ich Raum, die Lisa zu sein, die ich jetzt gerade bin.

11. Juni 2024

„Du bist nicht mehr die Lisa von vor einem Jahr.“

Eine Reise nach Zypern, eine Emotionscoach-Ausbildung, vier Persönlichkeitsentwicklungs-Seminare, zwei berufliche Weiterbildungen in München, ein halbes Jahr Privatcoaching, über ein Dutzend neue Freunde und 23 veröffentlichte Blogbeiträge liegen zwischen meinem Sommer 2023 und meinem Sommer 2024. Ich kehre zurück an meine alte Arbeitsstelle.

Dazwischen liegen hunderte Tage, in denen ich Millionen Tränen weinte, meine Drama Queen mit „Was-wäre-wenn“ auslebte und meine Wut zu Nina Chubas „Ich hass Dich“ rausschrie. Hunderte Tage, in denen mir im Sonnenuntergang Tränen der Rührung kamen, meine innere Königin Liebe mit jedem Blick ausdrückte und ich vor Freude auf offener Straße tanzte.

Meine Haare sind kürzer, meine T-Shirts bunter, mein Blick weiter. Die Tür, die ich von nun an wieder jeden Tag aufziehen muss, ist noch genauso schwer. Die Luft im grauen Gang, den ich von an wieder jeden Tag hasten muss, ist noch genauso dünn. Die Begrüßung, die mir von nun an wieder jeden Tag an die Ohren geworfen wird, ist noch genauso gestresst.

Ein Laptop, zwei Bildschirme, ein Headset, ein Telefon, eine Kaffeetasse. Nach 96 Tagen habe ich wieder angefangen, Koffein zu konsumieren. Ich vertraue meiner eigenen Energie nicht genug. Deswegen pushe ich sie mit schwarzer Brühe. Ich habe einem Menschen geholfen, die Angst, sich zu zeigen, zu überwinden. Ich habe einem Dutzend Menschen geholfen, nach jahrelangem Hass die Freude am Sport zu entdecken. Ich habe mich auf eine Bühne gestellt und gesungen, obwohl ich keinen Ton getroffen habe. Aber mich wieder in mein altes Großraumbüro zu setzen ist die größte Herausforderung für mich. Ich bekomme Herzrasen und Angst vom Kaffeetrinken, aber ohne kann ich dort nicht arbeiten.

Ich kann auch nicht klar denken. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen am Mangolienschreibtisch. Mehr Arbeit als jemand 24/7 leisten könnte, ein Wettlauf gegen die Zeit, nicht alle bekommen Burnout bescheinigt. Der Anspruch an Qualität verliert haushoch gegen die geforderte Quantität und äußert sich in geballten Fäusten auf dem Schreibtisch und schneidenden Worten von verletzten Berufsherz zu verletzten Berufsherz. Darüber mein Gefühl: Meinen Kollegen nicht genug helfen zu können, egal wie viele unbezahlte Überstunden ich auf meinem Drehstuhl neben der Autobahn verbringe.

„Du bist nicht mehr die Lisa von vor einem Jahr.“

Ich habe gelernt, tief zu atmen, meine Energie zu reinigen, meine Gedanken von meinen Gefühlen zu trennen. Ich habe gelernt, mir Sicherheitsanker zu bauen, mir zu vergeben, mich von außen zu betrachten und zu verinnerlichen: „Es ist, wie es ist.“

Ich wollte innerlich stark zurück in meine alte Arbeitsstelle gehen. Ich wollte ruhig und gelassen, selbstsicher und stark auf meinem Platz sitzen. Ich wollte bei mir bleiben, egal wie viel Leid um mich herum geschieht. Ich wollte mir zeigen, dass mein Bestes auch mit acht Stunden gut genug ist. Ich wollte die Erfahrung machen, dass ich mitfühlen ohne mitleiden kann. Ich wollte Frieden damit schließen, dass ich jetzt gerade nicht die ganze Welt befrieden kann.

Ich wollte in jedem Moment starke Entscheidungen für mich und für Liebe treffen. Ich wollte Atempausen machen. Ich wollte mein Wachstum leben. Leben, dass ich „nicht mehr die Lisa von vor einem Jahr bin.“

Und ich habe bislang nichts davon umgesetzt.

Dass ich mich verändert habe, nehme ich wahr. Ich nehme wahr, dass ich seit Montag in einer Kehle zuschnürenden Angst bin. Das nehme ich wahr, weil ich bis Sonntag in einer friedlichen, lichtvollen Liebe wahr. Angst und Liebe im Kontrast. Das Gesetz der Polarität.

Ich nehme wahr, dass ich mich zurückziehen, unter meiner Bettdecke verkriechen und vor mir selbst flüchten möchte. Gleichzeitig ist da noch was: Obwohl ich bisher zu 99 Prozent so gehandelt habe wie letztes Jahr und ein großer Teil in mir gerne so weitermachen möchte, stößt meine Bequemlichkeit auf Widerstand. Ich bin in der Angst, ich will da bleiben – und gleichzeitig weiß ich tief in mir drin, dass ich es nicht kann. Ich kann nicht dauerhaft in der Angst bleiben, ich kann aber auch noch nicht vollkommen in die Liebe wechseln. Es gibt kein Zurück mehr in die Angst ohne Handlung, aber auch keinen Ort, an dem ich auf dem Weg zur Liebe kurz rasten kann. Es gibt für mich gerade keinen Safe Space mehr um innezuhalten.

Warum kann ich nicht in der Angst bleiben? Ich denke, weil trotz meiner fehlenden Handlung die Beobachtung meiner Freundin stimmt: „Du bist nicht mehr die Lisa von vor einem Jahr.“ Ich handle gerade nicht danach. Doch innerlich habe ich mich dazu entschieden. Ich habe drei Seminare und ein Coaching gebucht, die nicht zulassen, dass ich mich in meine alten Verhaltensmuster verkrieche. Ich habe ein Umfeld, das mich fragt, was los ist, wenn ich schwach sein und in Selbstmitleid baden möchte.

12. Juni 2024

Ich habe das Gefühl, dass ich mein Umfeld nicht verdient habe. Ich habe es nicht verdient, dass Menschen meine Insta-Story schauen und mir darauf ihre Sichtweise, Erfahrungen und Tipps schreiben. Ich bin es nicht wert, dass jemand seine Zeit mit mir verbringt. Ich sollte aufhören, meine Gedanken zu posten. Was nützt meine Wahrheit, wenn ich darin keinen Mehrwert für andere liefere?

Kümmere Dich lieber um Dich, um Deine Gedanken und um alles, was Dir eine Freude macht anstatt mit meinen alten, destruktiven Verhaltensmustern. Ich will nur Licht und Liebe geben, nur Licht und Liebe sein. Ich entscheide mich jeden Tag für Liebe und fühle mich doch wie eine Heuchlerin. Wie ein Schatten. Ein Energievampir. Ich will alle negative Energie in mir loslassen. Ich reinige mich täglich von der Angst, der Schuld, der Scham, der Wut, der Verzweiflung. Und fühle mich doch Lichtjahre entfernt von der Liebe.

Gedanken erzeugen Gefühle. Ich denke morgens, mittags abends: Ich entscheide mich für mich. Ich entscheide mich für Liebe. Frieden beginnt in mir. – Und habe doch das Gefühl, dass meine Gedanken nicht landen. Nicht durchkommen. Irgendwie blockiert sind. Das ist okay. Ich bin okay. Ich bin okay, wenn ich nicht okay bin. Ich muss auch gar nichts tun. Ich muss nicht kämpfen. Es kann auch einfach mal leicht sein. Irgendwann ist es mal wieder leicht. Alles ist eine Phase. Es geht vorüber. Auch wenn ich glaube, dass ich mich für immer so fühlen werde. Gedanken sind noch keine Realität.

Sind das überhaupt meine Gedanken? Oder habe ich nur die Gedanken der Persönlichkeitsentwicklungsbubble übernommen? Wie viel Ich steckt noch in meinen Gedanken? Dann höre ich mal auf zu denken und atme in meinen Bauch.

Ich habe ich an einer Stelle eine Schreibblockade. Erst verfalle ich gewohnheitsmäßig in Angst & Schuld verfallen. Ich will mich selbst pushen, schnell irgendwas hinzuschreiben. Aber wohin bringe ich mich damit? In Angst, Schrecken und Stress.

Zeit für was Neues. Ich versuche, mich von außen zu betrachten. Ich merke, dass gerade keiner in dem Großraumbüro Druck auf mich ausübt außer ich selbst. Ich versuche, mir  selbst den Raum zu geben, keine Worte zu finden. 5 Minuten sitze ich jetzt da. Ich dankbar, dass ich von mir und meinen Kollegen akzeptiert werde, auch wenn ich mal für einen Moment nichts leiste.

13. Juni 2024

Zum ersten Mal seit Monaten wache ich mit Angst auf. Ich entscheide mich für mich. Ich entscheide mich für mich. Ich entscheide mich für mich. Die Angst entscheidet sich dafür, bei mir zu bleiben. Die Angst entscheidet sich für Herzklopfen in meiner Brust. Die Angst entscheidet sich für sinnlose Gedankenstrudel zukünftiger Ereignisse.

Im Großraumbüro gibt es heute heftigen Streit. Schon im ersten Meeting fliegen die Fetzen. Ich entscheide mich für Liebe. Meine Liebe landet nicht. Ich entscheide mich für mich. Ich entscheide mich, meinen Arbeitsplatz für zwei Stunden in den Nachbarsraum zu verlagern. Immer noch Großraumbüro, immer noch Streit. Doch zwei Prozent mehr Platz für mich. Die nehme ich mir.

Als ich an meinen zugeteilten Schreibtisch zurückkehre, empfängt mich eine gezwungen freundliche Stimmung. Eine Stimmung, die sich bemüht, an der Oberfläche ruhig zu bleiben, während sie untenrum bis zum Anschlag brodelt. Eine Stimmung, die „Alles ist gut“ sagt und „Ich kann schon seit einem Jahr nicht mehr“ meint. Eine Stimmung, die mit der nächsten Überforderungswelle bricht.

Wir machen eine Arbeit, die jeden Tag ein paar Zeilen mehr an Bedeutung verliert.

14. Juni 2024

Ich entscheide mich für mich. Das sieht heute so aus, dass ich auf dem Parkplatz vor der Redaktion sechs Minuten in meinem Auto sitzen bleibe. Auch wenn ich letztes Jahr zugelassen habe, dass mich alle ausnutzen, lasse ich das heute nicht mehr zu. Auch wenn ich gestern zugelassen habe, dass mich alle ausnutzen, lasse ich das heute nicht mehr zu. Auch wenn ich es nicht fühle, lasse ich heute nicht mehr zu, dass mich andere ausnutzen. Ich entscheide mich für mich. Ich entscheide mich für Liebe.

Dann bin ich im Großraumbüro. Ich möchte mit meiner Chefin sprechen. Das tut sie auch, aber nicht in einem Vier-Augen-Gespräch in ihrem eigenen Büro, sondern im Beisein von vierzehn Ohren. Besser als nichts.

Schon gerate ich zwischen die Fronten. Die Wut kommt drei Meter neben mir zu Besuch. Sie breitet sich aus. Ich wähle Liebe. Die Wahl fällt mir leichter, als ich dabei in Haselnuss-Augen schaue. Im Angesicht der Trauer und der Überforderung sehe ich eine verletzte Berufsleidenschaft. Ich bin neugierig, will mehr entdecken. Was zeigt sich mir Neues in den Menschen, die ich jeden Tag mindestens zehn Stunden sehe? Eine Lösung. Keine optimale, aber mehr als gestern Nacht im Gedankenstrudel unter meiner Bettdecke. Nicht optimal, aber mit der Intention: Ich sehe all Eure Ziele und all Eure Liebe hinter Eurer Wut. Ihr seid schön in der Wut. Schön, wenn ihr für Euer Arbeitsergebnis brennt. Schön, wenn Ihr Euch an erste Stelle stellt.

Ich liebe Euch. – Ich sage es nicht, aber ich denke es. Und Gedanken werden doch irgendwann Realität.

Ich lasse alle Versionen von mir los.

Was ich in diesem Prozess gerade loslasse? Ich lasse die Lisa los, die ich vor einem Jahr war. Ich lasse die Lisa los, die ich diese Woche war. Ich lasse die Lisa los, die ich gern gewesen wäre. Ich lasse die Lisa los, die ich gern sein möchte. Ich lasse alle Versionen von mir los, die in der Gegenwart und in der Zukunft liegen. Dann habe ich Raum, die Lisa zu sein, die ich jetzt gerade bin.

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