Woche 5 meines Neustarts
Ich wollte immer alles alleine schaffen. Ich bin mit 18 ausgezogen und lebte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, ohne jemanden zu fragen, wie man eine Waschmaschine bedient. Ich wollte keine Hilfe außer die von Google. Ich ging nie zur Berufs- oder Studienberatungen während meines holprigen Karriereweges. Ich setzte mich lieber regelmäßig unangenehmen Situationen in der Uni aus und ließ mich als das dumme Arbeiterkind abstempeln, als zu fragen, was Module, Credit Points und Co. bedeuteten. YouTube habe ich mehr um Rat gefragt als alle meine Freunde zusammen.
Und wenn YouTube keine Anleitung für mich hatte, betäubte ich jedes aufkommende Gefühl von Schwäche mit Essen, Nicht-Essen oder Sport.
Noch schlimmer als meine Unwissenheit war nur meine Bedürftigkeit. Auf Arbeit saß ich manchmal stundenlang im Großraumbüro ohne etwas zu trinken. Weil ich nicht produktiv arbeiten kann, wenn ich trinke. Ich fühlte mich so minderwertig, dass ich fast verdurstete. Essen war ein Zeichen von Schwäche. Genauso ein weicher Körper ohne Muskeln. Deswegen war mein ganzes Leben darauf ausgerichtet, stark zu sein. Stark im Job, stark in meinem Körper, stark in meiner Unabhängigkeit.
Ich empfand mein Leben als riesengroße Bürde und Last. Ich wollte mich niemandem zumuten, weil ich mich wie der letzte Mensch – oft nicht mal wie ein Mensch – fühlte.
Ich ging immer auf Abstand und war immer allein unterwegs, damit die Möglichkeit von Hilfsbedürftigkeit gar nicht erst entstand oder unsichtbar für die anderen blieb.
Das einzige, was mir heilig war, waren meine 8-10 Stunden Schlaf. Verdursten – ja, müde sein – niemals.
Wenn es die Arbeit zuließ, war ich immer um 20 Uhr im Bett, nur in Ausnahmefällen erst um 22 Uhr. Das einzige Nein in meinem Leben war das Nein zu Treffen nach 20 Uhr.
Bis zu diesem Sommer. Diesen Sommer fing ich an, mir die Nächte um die Ohren zu hauen. Ich sagte nie, dass ich müde war, denn ich war wollte nicht schwach und bedürftig wirken, wo ich doch gerade die starke war, die einen Menschen unterstützte. 4 Stunden Schlaf waren das höchste der Gefühle.
Mein Schlaf litt, folglich meine Sportroutine (die immer um 5 Uhr begann), dann meine Konzentration auf der Arbeit, die Qualität meiner freien Zeit. Ich wurde zu einer Person, die ihren Schlaf vernachlässigte. Eine Person, die ich nie sein wollte.
Also machte ich mich diesen Oktober wieder auf die Reise zurück zu einer gesunden Schlafhygiene. Die ersten drei Nächte schlief ich gar nicht. Und mit gar nicht, meine ich wirklich gar nicht. Es waren die ersten drei Nächte in meiner neuen Wohnung. Ich schaffte es zu meiner neuen Arbeitsstelle und ich schaffte, ein paar Möbel zu schleppen. Ansonsten schaffte ich gar nichts. Und das war mein größtes Geschenk.
Es zwang mich, zu schauen, wie ich alles, was ich in meinem Leben erleben wollte, erleben kann und gleichzeitig Schlaf als Priorität setzen kann. Die Herausforderung: Das, was ich erleben möchte, findet auch nach 20 Uhr statt. Ich hatte diesen Sommer viel Schlafentzug aus selbstgemachtem Druck und Selbstwertmangel, aber auch aus Selbstliebe und Liebe. Denn die Zeit nach 20 Uhr war oft wunderschön.
Ich erkannte: Ich will die Erfahrungen nach 20 Uhr und gleichzeitig mehr Schlaf. Ich will mehr vom Leben und ich werde mir das ermöglichen.
Ich wusste nicht wie, aber ich probierte aus. Statt jeden Tag um 5 Uhr aufstehen nur 2x in der Woche. Statt morgens Sport abends Sport. Statt Telefonieren bis nachts um 2 Uhr mal nach der Arbeit anrufen. Und so ist das noch immer. Kein starrer Plan. Mal gehe ich um 22 Uhr ins Bett, mal um 1.30 Uhr. Mal stehe ich um 5 Uhr auf, mal um 8 Uhr. So, wie es gerade in mein Leben passt. Ich plane nicht mein Leben um meinen Schlaf. Vielmehr lebe ich im Moment und gehe mit allem, was JETZT ist. Mal ist JETZT wach sein, mal ist JETZT schlafen.
Schlaf ist mir wichtig. Auch wenn ich es nie vor anderen zugegeben hätte. Schlaf ist nicht produktiv, nicht produktiv ist schwach und schwach will ich nie sein.
Doch ich hatte das unbeschreibliche Glück, dass meine Schwäche gesehen wurde. In meiner Beziehung. In meiner Beziehung ist Fürsorge ein großes Thema. Vor allem die Fürsorge für mich. Fürsorge – das ultimative Zeichen, dass ich schwach bin. Gerade zu Anfang lehnte ich jegliches Umsorgen ab. Ich bin doch stark und ich sorge lieber für zwei als für mich sorgen zu lassen.
Fürsorge assoziierte ich mit Bedürftigkeit und Bedürftigkeit war Schwäche. Doch wenn jemand sagt: Geh schlafen, Du bist doch müde – dann ist das vielleicht nicht nur ein Zeichen von Schwäche, sondern auch ein Zeichen davon, wie viel ich geleistet habe. Müdigkeit ist vielleicht nicht nur schwach, weil sie anzeigt, dass ich viel gegeben habe. Und dass es Zeit ist, Geben und Nehmen wieder in Balance zu bringen.
Beide Pole existieren gleichzeitig. Wo Schwäche ist, ist auch Stärke. Wenn ich stark sein will, muss ich akzeptieren, dass ich schwach bin. Wenn ich geben will, muss ich akzeptieren, dass ich auch nehmen muss. Wenn ich lieben will, muss ich akzeptieren, dass ich hasse.
In diesem Sinne lasse ich meine Kurzsichtigkeit los. Ich öffne mich, mehr zu sehen. Alles gleichzeitig zu sehen.
P. S. Ja, ich habe ein Problem damit, schwach zu sein. Aber manche Probleme können einfach nur sein. Und gleichzeitig kann ich mehr sehen.
