Davon, wie ich dachte, dass Manifestation funktioniert – und davon, wie ich mir Freundschaft kaufen wollte
Irgendein herrlich belangloses Dummgeschwätz im Ohr. Nudel- und Käsegeruch in der Nase. Warmer, weicher Teig – vermischt mit Tomaten und Rucola – in meinem Mund. Das habe ich mir diesen
Moment gewünscht. Mit Freunden beim Italiener sitzen, fröhliche Gespräche und dazu ein Stück Pizza. Aber die Realität sieht anders aus: Ich liege auf kaltem Fußboden, weil ich es nicht verdient habe, mich hinzusetzen. Das erzählt mir mein Kopf. Außerdem ist Sitzen das neue Rauchen, für meine Gesundheit ist es also auch besser. Noch besser wäre zwar unaufhörliches Laufen, aber ich habe meine 20.000 Schritte für heute schon voll.
Ich kann einfach nicht mehr. Nicht laufen, nicht sitzen, nicht sprechen. Mit allem kann ich irgendwann vor Erschöpfung aufhören, nur mit dem Denken nicht. Heute ist mein 24. Geburtstag und ich kauere seit drei Stunden allein auf dem kalten Fußboden. Ich verstehe nicht, warum ich nicht in der Pizzeria sitze.
Seit drei Monaten habe ich diesen Moment
jeden Morgen und jeden Abend manifestiert. Ich habe wirklich IMMER daran gedacht, Bilder vor meinen Augen gesehen, mir sogar Gespräche ausgedacht. Natürlich habe ich auch Einladungskarten geschrieben. Weder ein Ja noch ein Nein habe ich als Antwort bekommen. Ich werde wegignoriert.
Nicht erst seit gestern, sondern seit Jahren. Aber diesmal war ich mir SO sicher, dass ich nicht allein sein würde. Weil ich wirklich jeden einzelnen Tag alles gegeben hatte: Jede Textanfrage angenommen, jeden Zusatzdienst sofort erledigt, jedem aufmunternde Worte gesagt, die Gruppenarbeiten alleine gemacht, kranken Kommilitonen meine Zusammenfassung geschickt und
hunderte Geschenke gekauft. Trotzdem bin ich nicht gut genug. Ich wünschte, dass man Freundschaft und Gefühle kaufen könnte. Einfach in den Laden gehen, einmal eine Freundin und dazu eine Portion
Gut-Genug-Sein zum Mitnehmen, bitte.
Ein Jahr und 19 Tage später. Mein Po versinkt tief in der weichsten Couch der Welt. Ich lehne meinen Rücken an das flauschige Polster, drehe meinen Kopf nach links und genieße das Sitzen. Um mich herum vierzehn Frauen, mit denen ich vier Tage lang durch Wut, Trauer, Scham, Akzeptanz, Freude, Liebe und unzählige Wunder gegangen bin. Seit vier Tagen habe ich keine 20.000 Schritte mehr
erreicht. Nicht mal 10.000. Es könnte mir nicht egaler sein. Es ist alles gut, so wie es gerade ist. Der gesamte Raum, von dem ich ein Teil bin. Eine Hand reicht mir einen riesigen Pizzakarton. Deckel klappen auf, Italien steigt mir in die Nase. Ich halte inne. Die ersten Münder erfreuen sich bereits an Tomate und Käse. „Dieser Moment hier mit Euch und der Pizza bedeutet mir die Welt“, sagt meiner.
Ich habe nicht Geburtstag, diese Menschen kenne ich erst seit vier Tagen und wir sitzen nicht in einer Pizzeria. Ich habe mich auf eine Reise zu meinen Gefühlen gemacht, dabei Freunde gefunden und jetzt feiern wir uns erschöpft und zufrieden in der Hotellobby. Diesen Moment habe ich nicht manifestiert. Aber er ist besser als alles, was ich mir hätte vorstellen und wünschen können.

Vier Monate später. Montagabend, zwanzig vor neun. Heute hatte ich einen Rückfall in alte Zeiten. Statt mich zu erschaffen habe ich mich zerstört. Mit ungesundem Essen, ungesunden Tabletten und rekordverdächtigen 40.000 Schritten. Meine letzten vier Monate waren ein Auf und Ab. Ich habe so viele Pausen gemacht wie noch nie, gleichzeitig waren meine Arbeitsqualität und meine Ergebnisse so
gut wie noch nie. Ich habe ein Wochenende lang nicht mehr als zehn Sätze gesprochen, obwohl ich tausend sagen wollte. Ich habe mal vier Stunden Sport gemacht, mal null. Ich habe Menschen verletzt und Menschen aufgebaut. Ich habe Fehler gemacht und mein Wissen erweitert. Ich habe Kontakt zu
neuen Menschen aufgebaut und bestehende Kontakte verloren. Ich habe mich über hunderte Kilometer hinweg verbunden und fünf Meter vor mir so einsam wie nie gefühlt. 1000 Mal wollte ich aufgeben, 1001 Mal habe ich weitergemacht.
Am Freitag habe ich die Angst, etwas Falsches zu sagen, losgelassen. Am Samstag habe ich sie wieder zu mir genommen. Sonntag war okay, heute ekele ich mich vor mir selbst. Da ist nur Ekel und Verabscheuung, kein Platz für glückliche Erinnerungen oder eine friedvolle Zukunft. Ich will mich gerade nicht sehen, aber ich kann nicht einfach von mir weggehen. Muss mich sogar fühlen. Ich begreife mein Verhalten nicht, auch nicht meine Gedanken, mich selbst nicht. Aber ich brauche jetzt
was zum Greifen. Meine Finger berühren kühles Metall. Meine Augen fokussieren sich auf ein goldgelbes Pizzastück. Knallrote Tomaten, frischer Basilikum und so viel Käse, dass er über den Rand läuft. Darüber der Turm von Pisa, so schräg wie meine Gedanken. Inmitten dieses Kack-Tages, meiner
Scheißgefühle und viel zu großen Ziele muss ich lächeln. Leben ist Kontrasterfahrung. Vor eineinhalb Jahren bin ich in Tränen ausgebrochen, wenn ich nur an Pizza gedacht habe. Vor vier Monaten hatte ich den vielleicht schönsten Pizza-Moment meines Lebens. Und heute muss ich gleichzeitig lachen und weinen. Weil das Leben so schrecklich schön ist. Und weil ich jetzt einen Orden habe, der mich immer daran erinnert.
Es war nicht die Pizza, die ich losgelassen habe. Es war die Illusion, dass ich zukünftige Momente durch meine gegenwärtigen Gedanken kontrollieren kann. Heute manifestiere ich nicht mit Gedanken, sondern mit Gefühlen. Ich will nicht mehr eine bestimmte Situation mit bis auf den
Wortlaut geplanten Gesprächen erreichen. Ich möchte mich durch meine Taten präsent, friedvoll und verbunden fühlen.