Wann ist es „zu viel des Guten“? Zu viel Empathie gibt es nicht? Zu viel Liebe? Wie sieht es aus mit zu viel Schokolade, zu viel Sport, zu viel Sonne? Und am Ende aller Fragen, zu viel Selbstreflexion? Warum ich trotzdem finde, dass es nicht immer um Balance und Maß halten geht und was Loslassen mit Genießen zu tun hat.
Kann es zu viel Schokolade geben? Ist der Genuss nach der dritten Tafel wirklich noch genauso da wie beim ersten Bissen oder ist Dir so schlecht, dass Du nur noch eine einzige, unbequeme Position auf der Couch einnehmen kannst? Kann es zu viel Sonne geben? Freust Du Dich nach acht Stunden in der prallen Hitze wirklich noch über jeden Sonnenstrahl in Deinem Gesicht oder sehnst Du Dich nach einem schattigen Plätzchen und einer weniger roten, brennenden Haut? Kann es zu viel Liebe geben? Freust Du Dich nach zwei Wochen Pärchenurlaub mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit und 100 Prozent Fokus auf die Beziehung wirklich noch auf die gemeinsame Autofahrt nachhause oder sehnst Du Dich nach Zeit alleine, Arbeit, einem Freundesabend oder irgendetwas anderem, was nicht mit Deinem Partner zu tun hat?
Zu viel des Guten geht aber auch in eine andere Richtung: Jeden Tag Clean Eating, bis Du Angst vor einer Gemüsesuppe im Restaurant hast, weil Du nicht weißt, mit welchen Gewürzen gekocht wurde. Jeden Tag Sport, bis Du in Panik gerätst, weil Du Dein Workout wegen einem Arzttermin fünf Minuten kürzer halten musst. Jeden Tag 10.000 Schritte, bis Du nach einem langen Arbeitstag ausgelaugt abends vorm Bett auf und ab läufst, um die 20.000 noch voll zu kriegen.
Es geht nicht um Balance. Es geht um meine Entscheidung für mich.
Ich war auf beiden Seiten. Weder zu viel noch zu wenig Disziplin hat mir das freie Leben gebracht, das ich mir wünschte. Freiheit sind nicht „gute“ oder „schlechte“ Gewohnheiten oder die Balance zwischen beiden, sondern die Entscheidung, mich aus dem Moment heraus jede Sekunde neu für oder gegen eine Handlung entscheiden zu können.
Wie schaffe ich es, nach drei Stücken Schokolade, einer halben Stunde in der Sonne liegen und einem Abend Couple-Zeit aufzuhören? Meine Vorgehensweise unterscheidet sich da gar nicht so sehr davon, wie ich es schaffe, nach zwei Tagen Clean Eating abends Pommes zu essen, einen ungeplanten Rest-Day einzulegen und nach 6.000 Schritten schlafen zu gehen. Für mich läuft es aufs Gleiche (oder Selbe) hinaus: Bewusstsein. Bin ich im Autopilot, sobald ich die Tafel Schokolade aufgerissen habe, oder bin ich mir jeden Moment bewusst darüber, dass ich das Papier zerreiße, die Tafel breche, ein Stück abtrenne und es zu meinem Mund führe? Genieße ich bewusst, wie die braune Masse aus Zucker, Kakao und Milch auf meiner Zunge zerläuft oder betitele ich beim automatischen Griff in die Packung beim letzten Stück, dass die „Gönnung“ jetzt abgeschlossen ist, während ich noch meine Serie zu Ende schaue? Entscheide ich mich beim Abreißen jedes neuen Schokoladenstücks bewusst jedes Mal aufs Neue dafür, die Süßigkeit zu essen (& gebe mir dadurch auch Raum für ein Nein), oder mache ich es mir bequem, indem ich mich nur am Anfang entscheide und dann auf Autopilot durchziehe?
Erweitere Deinen Plan – entspanne Dein Gedankenkarussell.
Ich war auf beiden Seiten. Und manchmal entscheide ich mich dafür, im Autopilot durchzuziehen. Für mich gibt es nämlich keine Patentlösung. Mal entscheide ich mich für ein Stück, mal für drei, mal für alle. Mal entscheide ich mich für die Bewusstheit und mal dagegen. Vielleicht liegt es an meinen vergangenen Erfahrungen. Vielleicht ist das mein Weg. Denn nur durch Unbewusstheit weiß ich erst, was Bewusstheit ist. Und was ich will, ist jeden Moment neu. Das ist sehr anstrengend, doch zwischendrin wunderschön und am Ende unendlich frei. Manchmal überesse ich mich trotzdem. Oder verkneife mir die Schoki komplett. Es ist nicht nur ein Prozess, sondern auch Balance. Balance ist zu viel essen und zu wenig essen. Balance ist „Fehler“ machen. Balance schließt über die Grenze gehen ein. Alles andere ist für mich keine Balance, sondern eine sehr verträumte Vorstellung eines vermeintlichen Idealbildes von Balance, was in meinen Augen nicht existiert.
Wie entspannt mein Leben ist, seitdem ich meine verquere Vorstellung von Balance und Maß halten losgelassen habe. Ich stresse mich nicht mehr, weil ich über die Strenge geschlagen oder meinen Plan nicht eingehalten habe. Denn mein Plan schließt jetzt alles ein. Stress ist so viel ungesünder als sämtliche Planabweichungen. Und die Bewusstheit bringt mich immer wieder zu mir, wenn ich mich mal etwas weiter von mir selbst entfernt habe. Erst die Bewusstheit, dann meine Entscheidung. Für mich. Jeden Moment neu. Stress macht mir auch so einen Tunnelblick- Ähnlich wie Angst, die meine Wahrnehmung winzig klein macht. Wenn ich Angst habe, weiß ich, dass da so viel mehr ist, was ich gerade nicht sehe. Obwohl ich es doch sehen will. Angst schränkt ein. Bewusstsein weitet aus. Je mehr ich Angst, selbstauferlegte Pläne, Regeln, Kontrollzwänge, Idealvorstellungen, Annahmen ohne selbstgemachte Erfahrungen, Erwartungen an mich und andere und Perfektion loslasse, desto mehr weite ich mich aus.
Zu viel Empathie ist auch nicht die Lösung.
Zu viel des Guten lässt sich übrigens auch auf Verhaltensweisen anwenden. Hier kann ich empfehlen, mal das Wertequadrat von Schulz von Thun zu googeln. Dort siehst Du, dass jede Charaktereigenschaft und Verhaltensweise so stark übertrieben werden kann, das sie kippt. Im Grunde ist es wie mit allem im Leben: Es hat zwei Seiten (der Medaille), denn wir leben in einer dualen Welt. Wenn jemand, der sie emphatisch ist, es mit der Empathie für andere übertreibt, kippt er in die Schattenseite der Unterwerfung, vergisst sich und opfert sich komplett für andere auf. Selbstliebe kann zu Selbstsucht kippen, Sparsamkeit zu Geiz, Großzügigkeit zu Verschwendung, Lockerheit zu Schlampigkeit, Spontanität zu Fahrlässigkeit, Mut zu Leichtsinn…Auch hier bewirkt schon das Bewusstsein eine Menge. Wenn Du zum Beispiel Deine Faulheit loslassen möchtest, mal Dir doch mal das Wertequadrat auf und schaue, was die Tugend dahinter ist. Das kannst Du sowohl mit Verhaltensweisen machen, die Du loswerden willst (Faulheit, Perfektionismus, Ja-Sagen, Unordnung, Überessen, Misstrauen…) als auch mit solchen, die Du mehr integrieren möchtest (Disziplin, Lockerheit, Nein-Sagen, Ordnung, Vertrauen…). Im ersten Fall schreibst Du Deinen Wert nach unten rechts, im zweiten Fall nach oben links. Hast Du Dir durch das Aufschreiben der anderen Werte erstmal bewusst gemacht, was hinter Deinem Wunsch steckt, hast Du schon viel Klarheit gewonnen. Mache Dir das so oft Du kannst im Alltag bewusst, erinnere Dich daran, sage es Dir. Setze eine klare Intention, welchen Wert Du möchtest und welchen nicht.
Gibt es zu viel Selbstreflexion?
Bei aller Selbstreflexion stellt sich mir jetzt die Frage: Gibt es auch hier ein „Zu viel des Guten“? Zu viel Selbstreflexion?
1. Erschaffen wir uns durch das ständige Reflektieren vielleicht Probleme mit Themen, mit denen wir vorher glücklich leben konnten? Zum Beispiel arbeite ich an meinem Perfektionismus. Ich mache tolle Fortschritte, während zeitgleich ein neues Thema aufploppt, nämlich mein Drang, es allen recht (perfekt) machen zu wollen. Muss ich mich jetzt ständig weiterreflektieren, sämtliche meiner Dränge bearbeiten, oder kann ich auch einfach mal nur im Moment leben und feiern, dass ich meinen Perfektionismus schon ein gutes Stück abgelegt habe? Oder ist mein Erfolge-Feiern direkt mit dem Weitermachen des nächsten Themas verbunden? Ist jedes Thema so dringend, dass ich es sofort angehen muss, wenn es mir bewusst wird? Oder kann ich auch glücklich und zufrieden leben trotz unbearbeiteter Themen?
2. Macht mich das ständige Nachdenken über mein Glück glücklich oder das Leben im Moment? Wenn ich nur reflektiere, wann tue ich mal was? Steckt die Lösung meines Themas in meinen Gedanken oder im Tun? Und wenn ich nur mich selbst reflektiere, was ist mit den anderen und allem, was in meiner Umgebung passiert? Nehme ich das wirklich mit allen Sinnen wahr oder bin ich nur bei mir? Außerdem, was ist mit „Wer andere glücklich macht, wird selbst glücklich“?
3. Sehen wir in unserer Social-Media-Bubble (ein liebevolles Hallo an alle Coaches) Menschen, die sich mit Dingen selbstoptimieren, die wir vorher gar nicht auf dem Schirm hatten und verspüren plötzlich den Drang, auch an unserem (bspw.) Selbstwert arbeiten zu müssen? Ich arbeite eigentlich gerade an meinem Perfektionismus, aber da ist ein Coach für Selbstwert und da rennen jetzt alle hin. Ich fühle mich zwar bisher ganz gut mit meinem aktuellen Selbstwert, aber auf Insta machen das jetzt alle und ich will ja nicht zurückbleiben. Außerdem, wer bin ich, daran nicht auch arbeiten zu müssen? Sicher habe ich auch ein Thema damit, ich weiß es nur noch nicht. Und ein anderes Mal sehe ich im Reel jemanden, der wegen seiner Aufschieberitis im Coaching ist. Ich habe für mich eine Strategie entwickelt, wie er Aufgaben unter Druck super gut erledigen kann, aber jetzt habe ich das Coaching gesehen und lasse mich mitreißen und stressen, meine Verhaltensweise auch bearbeiten zu müssen.
4. Stellen wir Selbstreflexion über Sein? Muss ich unbedingt jeden Morgen ohne Ausnahme als Allererstes mein Dankbarkeits-Tagebuch ausfüllen oder kann ich auch mal auf meinen Körper hören und zuerst ein kleines Workout machen? Muss ich mich nach jedem Streit sofort hinsetzen und reflektieren, wie ich mich verhalten habe oder kann ich auch einfach mal eine Serie schauen und den Tag einen Tag sein lassen? Muss ich unbedingt das neueste Buch über Persönlichkeitsentwicklung sofort am Erscheinungsdatum vorbestellen oder kann ich auch einfach mal einen Fantasyschmöcker zum Einschlafen lesen? Muss ich mich mit meinen Freunden 24/7 über meine Gedanken, Glaubenssätze und Gefühle unterhalten, oder kann ich auch einfach mal über die neue Folge Germany’s next Topmodel diskutieren? Muss ich auf Biegen und Brechen jeden Abend meine Stolzmomente aufschreiben, selbst wenn ich tot müde bin und einfach nur schlafen will?
In diesem Moment entscheide ich mich fürs Sein. Ohne Worte. Ohne Gedanken. Mit voller Leidenschaft. Mit vollem Herzen.
