Je mehr ich mein Leben zusammenhalten möchte, desto mehr fällt es auseinander. Festhalten ist nicht die Lösung. Loslassen aber auch nicht.
Ich tue alles, um die Kontrolle über mein Leben zu behalten. Doch ich war nie kontrollloser in meinen Entscheidungen und Handlungen.
Früher habe ich meinen Kontrolldrang auf mein People Pleasing zurückgeführt. Ich will die Kontrolle über mich behalten, um möglichst angenehm für mein Umfeld zu sein. Ich kontrolliere mein Lächeln, ich kontrolliere meine Worte, ich kontrolliere meine Zeit für Ehrenamt, um möglichst hilfsbereit für andere zu sein. Bloß nicht auffallen. Bloß niemandem zur Last fallen. Bloß nicht so aussehen, als hätte ich Bedürfnisse.
Das hat übrigens jahrelang sehr gut funktioniert. So gut, dass ich irgendwann glaubte, ich wäre wirklich dieses Strahlemädchen mit den perfekten Worten und dem bewundernswerten Engagement. Ich gehe vor die Tür – meine Mundwinkel gehen hoch. Ganz natürlich, ganz normal. Kein antrainierter Zwang. 20 Leute pro Tag fragen mich nach Texten und guten Formulierungen und samstagabends um 22 Uhr wird noch ein Spüldienst gesucht – natürlich mache ich alles zwischen Abitur und drei Nebenjobs. Die Zeit habe ich doch natürlich, das ist ganz leicht und Teil meiner Persönlichkeit. Ich bin dieses Mädchen ohne Meinung, Wünsche – und ohne Kontrollverlust. Allseits beliebt und geliebt – doch nicht für die Person, die sie ist.
Kontrolle vs. Perfektionismus
Dann habe ich meinen Kontrolldrang auf meinen Perfektionismus zurückgeführt. Ich will die Kontrolle über mich behalten, um so viel Karriere wie möglich zu machen. Jedes Uni-Seminar war ich perfekt vorbereitet: Jedes Buch auf der Leseliste las ich bis zur letzten Fußnote. Jede Gruppenarbeit machte ich allein, damit mir der Stoff durch die Mitarbeit anderer nicht entging. Jede Hausarbeit las ich mindestens so oft Korrektur, wie sie Seiten hatte – auch wenn es 34 waren. Ich perfektionierte meinen Schlaf, meinen Schreibstil, die Dauer meiner Bad-Routine. Selbst gleichmäßig gespitzte Bleistifte brachten mir nicht den 1,0er Schnitt.
Ich dachte auch mal, dass mein Kontrolldrang ein Gegengewicht zu all den unvorhergesehen Ereignissen im Weltgeschehen ist. Pandemie, Krieg und Inflation kann ich nicht kontrollieren – wohl aber mein Aussehen, meine Worte, meine Zeit. In eine ähnliche Richtung ging meine Vermutung, mein Kontrolldrang komme als Gegensatz zu meinem unvorhergesehen Berufsalltag in einer Tageszeitung mit Bombenfunden, brennenden Häusern und Unwettereinbrüchen.
Das letzte halbe Jahr war ich fast frei von all dem People Pleasing, Perfektionismus und Ängsten vor dem Unvorhergesehenen. Mein Kontrolldrang war ebenfalls so leise wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich hatte es nicht so geplant, doch 2024 ist für mich das Jahr der Live-Events. In fremde Städte reisen, mit fremden Menschen fremde Dinge tun – da war wenig Raum für Kontrolle.
Ich habe die Kontrolle losgelassen – bis zu einem gewissen Grad.
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, Kontrolle loszulassen. Bis zu einem gewissen Grad. Den Weg nicht zu wissen und mich zu verlaufen. Mich vor andere zu stellen und zu sagen, dass ich gerade nicht weiß, was ich tun soll. Nicht zu planen, wann und was ich esse. Ich habe aufgehört, ständig im Urlaub erreichbar zu sein und meine Mails zu checken. Ich habe aufgehört, meinen Tag minutiös durchzustrukturieren und mich fertig zu machen, wenn ich die Agenda um zwei Minuten verpasse. Ich habe aufgehört, meine Gedanken durch Affirmationen kontrollieren zu wollen. Ich habe aufgehört, Meditationen zu machen, weil „Du sonst nicht entspannen kannst.“ Ich habe aufgehört, Sport zu machen, um meine Körperform zu kontrollieren. Ich habe aufgehört, auf „Wie geht es Dir“ standardmäßig mit „gut“ zu antworten. Ich habe aufgehört, mir vorher bis auf den Wortlaut und das Komma Gedanken zu machen, was ich im Meeting sage. Ich habe aufgehört, kontrollieren zu wollen, wann ich Feierabend machen kann.
Ich habe meine Kontrolle losgelassen. Mit Herzklopfen, zittrigen Knien und rasendem Gedankenkarussell. Stück für Stück. Bis zu einem gewissen Grad. Trotz diesen für mich großen Fortschritten, trotz dass ich so viel auf meine Intuition gehört habe wie noch nie, trotz dass ich viele meiner Gedanken- und Verhaltensmuster durchbrochen habe – hatte ich immer noch den Wunsch, gewisse Dinge unter Kontrolle zu halten. Ich wollte mich selbst zusammenhalten.
Ich falle auseinander, obwohl ich mich zusammenhalten will.
Ich will mich auch jetzt noch zusammenhalten. Jetzt. Jetzt habe ich seit zehn Tagen die Kontrolle verloren. Seit zehn Tagen bin ich auseinandergefallen. Obwohl ich mich doch zusammenhalten wollte. Und zwar nicht dieses „Oh ich habe mal für einen Abend die Kontrolle verloren“ Auseinanderfallen. Mehr dieses Auseinanderfallen, was mein ganzes Leben erschüttert. Ich überschreite selbstgesteckte Grenzen meiner Selbstwürde, Selbstachtung, Selbstakzeptanz. Ich bin so sehr außer Kontrolle, dass ich mich nicht mehr wie ein Mensch fühle.
Es ist mehr als ein Betäuben, um nicht fühlen zu müssen. Mehr als die Angst vor der Angst. Mehr als ein Betäuben, um nicht denken zu müssen. Mehr als ein Betäuben, um nicht aktiv leben zu müssen. Mehr als die Angst vorm Leben. Vielleicht ist es manchmal ein Sterben-Wollen. Und doch ist es mehr als Selbstzerstörung.
Es ist ein Weglaufen vor mir selbst, obwohl ich nichts sehnlicher möchte als mir zu begegnen. Es ist ein Weglaufen vor Verantwortung, obwohl ich die Macht über mein Leben zurückerobern möchte. Es ist ein Weglaufen vor der Lebendigkeit, obwohl ich lebendig bin.
Habe ich Angst vor meiner eigenen Energie?
Zuerst dachte ich, dass der Kontrollverlust eine Antwort auf meine Energie ist. Beziehungsweise auf meine Angst vor meiner eigenen Energie. Die hat sich nämlich möglicherweise in den letzten Wochen erhöht. Und vielleicht habe ich jetzt Angst vor all den Projekten, die ich damit in der Welt bewirken kann. Doch dann habe ich zwischen zwei Kontrollverlusten eine sehr intensive Begegnung mit meiner Energie gehabt und verstehe nun, dass ich nicht so viel Angst vor ihr habe, wie ich mir eingeredet habe.
Dann dachte ich, dass der Kontrollverlust eine Antwort auf mein Wachstum ist. Ich habe intensive Seminare hinter mir, einige Gewohnheiten abgelegt, neue Menschen kennengelernt. Manchmal fühle ich mich sogar fremd in mir, weil alles so ungewohnt ist. Und vielleicht braucht mein System etwas Vertrautes, um auf all das klarzukommen. Kontrollverlust ist vertraut. Denn ich hatte immer wieder Phasen des Kontrollverlustes, mein ganzes Leben lang. Aber irgendwie trifft es das auch nicht ganz.
Dann wollte ich den Kontrollverlust in Rückfall umbenennen. So wie ich es schon häufiger in der Vergangenheit gemacht habe. Vielleich ist es auch ein Rückfall. Aber es ist irgendwie auch viel extremer.
So viele Tools und Techniken gegen meinen Kontrollverlust
Ich will gar nicht die Kontrolle verlieren. Ich atme, ich fühle, ich reflektiere. Ich mache sogar mehr Mediationen als sonst. Ich versuche es mit der energetischen Reinigung. Ich verbinde mich nach oben und erde mich nach unten. Ich erlaube mir, zu scheitern (vermutlich nur bis zu einem gewissen Grad). Ich akzeptiere, dass es ist, wie es ist. Doch ich fühle mich unfähig, die Verantwortung zu übernehmen. Ich mache jeden Tag mindestens eine Sache anders als sonst. Ich gehe in Verbindung und zeige mich verletzlich. Und dann renne ich bewusst in mein eigenes Verderben. Als würde ich es brauchen. Als würde ich Kontrollverlust bis fast zur Bewusstlosigkeit brauchen. Denn das bin ich nach meinen Rückfällen: Fast bewusstlos, getrennt von mir selbst und der Welt, menschlos.
Was brauche ich wirklich?
Wahrscheinlich brauche ich etwas. Die Frage ist, was das ist. Welches meiner Bedürfnisse erlaube ich mir nicht?
Wenn ich mit dem Motivkompass auf mich schaue, würde ich auf Selbstwirksamkeit tippen. Aber ich bin nicht sicher. In Verbindung bin ich definitiv. Ich habe gelernt, um Hilfe zu bitten und anzunehmen. Trotz Scham anzunehmen. In der Freude bin ich auch. In keinem anderen Lebensbereich habe ich in den letzten Monaten so viel Wachstum erlebt wie in der Freude. Dachte ich früher, dass ich nie mehr ehrlich lachen kann, sehe ich heute die Freude in jedem Menschen. Ich liebe die leichten Momente, die ich dieses Jahr neu kennengelernt habe. Orientierung und Kontrolle habe ich auch. Natürlich nicht, wenn ich die Kontrolle verliere. Aber bevor ich die Kontrolle verloren habe, hatte ich sie ja. Also bleibt nur die Selbstwirksamkeit.
Was total grotesk ist, weil ich jahrzehntelang eine Queen der Selbstwirksamkeit war. Da wären zum Beispiel meine zahllosen Zeitungsartikel, die ich Tag für Tag schreibe. Was zeigt eigentlich mehr Selbstwirksamkeit, als jeden Tag die Früchte seiner Arbeit in den Händen zu halten? Aber auch im Grenzen setzen bin ich seit einigen Jahren sehr gut geworden, ich stehe ein für mich und für meine Zeit (außer im Job). Ich bin so stolz auf mich, dass ich am Ende meiner Fitnessstunden mit meinen Teilnehmern die Superressource kultiviere. Ich habe schon als Jugendliche so lange affirmiert: „Ich bin ruhig und gelassen, selbstsicher und stark“, bis ich es geworden bin. Ich habe gerade so mein Abi geschafft, meine Ausbildung abgebrochen und mich selbstwirksam hochgescheitert. Ich glaube an mich. Ich bin wirklich gut im Kontrollieren, das ist ja auch Selbstwirksamkeit. Aber nicht übersteuert. Glaube ich zumindest. Und die meiste Zeit bin ich auch überzeugt, dass ich meine Probleme gut überwinden kann. Ich fühle mich der Situation nicht ausgeliefert, sondern bin meist ruhig und gelassen.
Wenn ich an den Kontrollverlust denke, fühle ich mich auch nicht ausgeliefert. Ich treffe eine bewusste Entscheidung. Zwar eine Entscheidung gegen mich, aber es ist eine aktive, bewusste Entscheidung.
Irgendwie trifft es das noch nicht.
Seelische Grundbedürfnisse sind beispielsweise, sich geliebt, geborgen und akzeptiert zu fühlen. Die sehe ich auch befriedigt. Ebenso wie die Gegenseite des individuellen Weges. Emotional bin ich auch gut aufgestellt, habe gelernt, mit meiner Wut und Angst umzugehen und Liebe und Freude zuzulassen.
Ich bin überfordert.
Irgendwie komme ich nicht drauf. Vielleicht habe ich ein unerfülltes Bedürfnis. Vielleicht auch nicht. Ich buche jetzt aber nicht das nächste Coaching. Ich bin erfüllt von und dankbar für meine Coachings, Seminare und die ganze Erfahrung und Reflektion. Doch ich übe mich in Balance. Wo Lernen ist, braucht es auch Spiel (es ist nicht so, als würde ich irgendwas spielen, aber es ist symbolisch und klingt so schön). Wo Sinn ist, braucht es auch Unsinn. Vielleicht ist das hier der sinnloseste Text, den ich je geschrieben habe. Vielleicht liegt der Sinn auch im Weißraum. Oder es ist einfach Unsinn. Nonsense. Ohne Unsinn kein Sinn.
Ich mache mir viel zu oft Druck, dass meine Worte, meine Handlungen, mein Leben Sinn machen soll. Deswegen lasse ich jetzt einfach mal ein Stückchen Sinn los.
Und ich gebe zu: Ich bin überfordert. Ich bin überfordert von mir selbst und an diesem Punkt hier weiß ich verdammt nochmal nicht weiter. Denn während ich das hier schreibe, denke ich schon an den nächsten Rückfall. An den nächsten Kontrollverlust. Ich kriege es nicht gebacken, meinen Fokus auf etwas anderes zu shiften, Atmen hilft nicht und mein Warum aufzuhören, ist scheinbar auch nicht stark genug. Denken bringt nichts, nicht denken bringt nichts. Kämpfen bringt nichts, nicht kämpfen bringt nichts. Sinn bringt nichts, Unsinn bringt nichts. Ich bringe es nicht.
So drücke ich mich gerade aus. Oder drücke ich mich? Drücke ich mich vor etwas? Oder drücke ich mich selbst?
