Du isst entweder drei Wochen lang kein einziges Stück Schokolade oder jeden Tag eine Tafel? Du machst entweder jeden Tag Sport oder liegst drei Monate auf der Couch? Du machst entweder eine Saftkur oder gehst aus mit Pommes, Bratwurst und Bier? Und dann kommt ein schlauer Lifestyle-Experte um die Ecke und sagt: Das Zauberwort lautet ‚Ernährungsumstellung‘.

„Du musst nur die Balance finden. Verbiete Dir nichts. Alles in Maßen.“ Es gibt nur ein Problem: Du kennst Dein Maß nicht und Deine Balance ging irgendwo zwischen der Wippe auf dem Spielplatz und dem Gleichgewicht beim ersten betrunkenen Radfahren verloren. Du kennst nur noch „Alles oder Nichts“. Alle Chips aus der Tüte oder den Snack gar nicht erst einkaufen.

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Jahrelang dachte ich, dass sich die Balance einpendeln würde. Erst schlug ich komplett in Richtung Verzicht aus. Ich war eisern und diszipliniert, wenn ich mein Training dem Pizzaabend vorzog. Dann wechselte ich ebenso radikal auf die andere Seite. Jeden Tag Schokolade. Als mein Ernährungsziel zu 150 Gramm Eiweiß pro Tag umschwang und ich für ein Sixpack mit breitem Rücken trainierte, glaubte ich, die Balance gefunden zu haben. Mein Körper gehört zu mir, aber er gehört mir nicht. Mein Körper ist nicht ideal für den gesellschaftlichen Standard, aber er ist ideal für mich. Das redete ich mir ein, Doch so einfach war es für mich nicht.

Ich wusste nicht, wozu ich meinen Körper bekommen habe. Ich glaubte, nur ein perfekter Körper könne mir die Akzeptanz geben, die ich mir so sehr wünschte. Ich wusste nicht, wo meine Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit ist.

Oft fühlte ich mich unsicher. Vielleicht ist Sicherheit nur eine Illusion, aber es ist doch auch ein Grundbedürfnis. Kontrolle gibt mir Sicherheit. Im Außen kann ich so wenig kontrollieren. Wie Menschen auf mich reagieren. Wann die nächste Bahn kommt. Wie teuer eine Kugel Eis nächstes Jahr sein wird.

Deswegen kontrollierte ich mich. Was ich esse. Wann ich es esse. Wie viel esse. Wie viele Schritte ich am Tag gehe. Und wehe, es sind unter 20.000. Kontrolle um jeden Preis. Tagelang nichts essen. Frieren bei 40 Grad im Schatten. In einer Zeitschrift las ich, dass Sitzen ungesünder als Rauchen ist. Ich fing an, im Stehen zu rauchen. Ich hatte ein Sixpack, war dem perfekten Körper recht nah. Ich habe mich nie weniger akzeptiert.

Irgendwann fand ich Kontrolle im Essen. Jeden Tag Schokolade. Entwickelte sich zu 150 Gramm Protein pro Tag und Heulkrämpfen, wenn meine Schultern trotz meines Bodybuilding-Plans nicht breiter wurden. Cutting. Bulking. Zu Essensplänen, die ich (er)brach. Je weniger Kohlenhydrate und Zucker ich essen wollte, desto mehr brachte meine Fixierung darauf in meinen Mund. Was mir früher Kontrolle gegeben hatte, war zu einem großen Kontrollverlust geworden. Je zwanghafter ich versuchte, Kontrolle über mein Essverhalten und meinen Körper zu gewinnen, desto mehr verlor ich sie. Für mich gab es nur Alles oder Nichts.

Ich habe keine Akzeptanz im Essen gefunden. Auch nicht im Nicht-Essen. Am ehesten noch im Sport. Nach 40 Minuten Liegestützen geht’s eigentlich. Doch das Pendeln zwischen den Extremen brachte mich nicht in die Mitte. Was hat mir geholfen, mich zu akzeptieren, als ich das Gefühl hatte, kein Mensch akzeptiert mich? Der Gang in die Natur. Der Wald hat mich akzeptiert. Die Bäume, die Blätter, die Wurzeln. Die Sonne hat mich akzeptiert. Und der Mond. Aber die meiste Zeit ist gar nichts davon in meinem Leben, zwischen Bürostühlen, Sporthallen und meinem Bett. Und ich bin trotzdem noch hier. Ich brauche keine Akzeptanz, um zu leben. Doch ich habe sie gesucht.

Ich musste erst erkennen, dass es nicht ums Essen geht. Nicht um mein Aussehen. Nicht mal um mein Gedankenmuster von „Alles-oder-Nichts“. Es geht nicht darum, in die Mitte, ins Lot, ins Gleichgewicht zu kommen. Es geht darum, ins Vertrauen zu kommen. Vertrauen mir selbst gegenüber. Selbstvertrauen. Ich war so sehr auf äußere Umstände fokussiert, auf die ideale Ernährung, die perfekte Sportroutine, die ausbalancierte Form von Genuss und Disziplin, dass ich den Zugang zu meinem Inneren verloren hatte. Ich hörte lieber auf Ernährungsratschläge aus dem Internet als auf die Signale meines Körpers. Und irgendwann hörte ich die Signale meines Körpers gar nicht mehr.

Seit Jahren bin ich auf dem Weg zurück zu mir. Dabei geht es nicht darum, irgendwann einen Punkt zu erreichen, an dem ich sage: Jetzt bin ich da. Jetzt bin ich bei mir angekommen. Vielmehr geht es darum, das Vertrauen in mich bewusst zu stärken. Mich bewusst in Situationen außerhalb meiner Komfortzone zu begeben. Bewusst zwei Rest Days hintereinander machen. Bewusst über die Strenge zu schlagen. Ich habe mir jahrelang gänzlich Schokolade verboten, als ich noch nicht mal 18 war. Und nach einer Woche mit jeden Tag Schokolade hatte ich immer noch genauso ein Verlangen auf den Zucker wie vor sieben Tagen. Es dauerte fast ein halbes Jahr. Jeden Tag versuchte ich, den Drang nach Riegeln und Tafeln zu unterdrücken. Mich zu fragen, was ich gerade wirklich brauche. Ich hörte meine Intuition nicht. Meine Scham und Schuld waren lauter. Kein Wunder, denn ich hatte meine Intuition jahrelang unterdrückt. Jahrelang hatte ich die „perfekte Ernährung“ über die natürlichen Triebe meines Körpers gestellt. Das machte auch einen Monat voller Schokolade nicht wett. Während ich die Schokolade aß, fühlte ich mich wie die größte Versagerin dieser Welt. Mir war, als würde ich mit jedem Bissen fetter werden und somit meinen Wert verlieren. Jeder Bissen brachte mich näher ans Übergewicht und ich wäre lieber gestorben, als übergewichtig zu sein. Dann würde mich erst recht niemand liebhaben. Niemand würde mich jemals akzeptieren. Ich wollte einen gesunden Körper, aber noch mehr wollte ich akzeptiert werden. Unterbewusst muss ich es verstanden haben, dass die Akzeptanz bei mir anfängt. Nicht bei mir als Person, denn ich nahm mich nicht als Mensch war. Ich nahm mich als Monster war und nur der perfekte Körper würde mich zum Menschen machen. Es fing bei der Akzeptanz der Lage an, in der ich mich befand. Irgendwann akzeptierte ich, dass ich Schokolade aß. Ich fand es nicht gut und ich hasste mich weiterhin dafür, fühlte mich schuldig und wertlos, aber ich akzeptierte es. Ich verdrängte mein Verhalten nicht länger, sondern ich nahm es bewusst war. Erst nach etwa einem halben Jahr habe ich das Vertrauen meines Körpers bekommen. Er verstand, dass ich ihm jetzt Schokolade gebe, wenn er mir ein Signal sendet. Das heißt nicht, dass ich jetzt perfekt bin und nicht auch mal emotional esse und über meine Grenze drüber gehe. Aber das heißt, dass ich wieder genug Vertrauen in mich aufgebaut habe, um mich für mich gesund zu ernähren.

Erst kam das Vertrauen in mich, meine Handlungen und meinen Körper. Anschließend definierte ich für mich „gesunde Ernährung“ neu. Erst brauchte ich aber das Vertrauen, um wieder in meinen Körper zu kommen und seine Signale wahrzunehmen. Dann kam die Frage: Was esse ich, wenn es keine Regeln und keine Tabus gibt? Um herauszufinden, was mich nährt, was mein Körper möchte, probierte ich (fast) alles aus: Sämtliche Lebensmittel, morgens die größte Portion essen, gar nichts frühstücken, High Fat, Low Fat, you name it. Daraus leitete ich einen Rahmen für mich ab, der mir guttut. Einen Rahmen, den ich sekündlich ändern kann, sofern ich will. Was mir auch geholfen hat: Der Gedanke, dass ich mich gar nicht ungesund ernähren kann. Wenn ich mich gar nicht ungesund ernähren kann, wenn die Tafel Schokolade nicht ungesund ist, dann denke ich nicht in „gut“ und „schlecht“, sondern sehe die Lebensmittel als das, was sie sind: Lebensmittel. Denn was ich sehe, wenn ich einen Schokoriegel anschaue, ist eine rot-weiß gerippte Verpackung mit dem Schriftzug „kinder“. Was ich denke, ist: „Der Schokoriegel ist ungesund.“ Was ich fühle, ist Angst und Schuld. Das sind drei verschiedene Ebenen und der einzige objektive Fakt ist die Verpackung. Mein Sehen von meinem Denken und Fühlen zu trennen, bringt mich in die Gegenwart und bringt mir Klarheit.

Mit Selbstvertrauen und einem breiten Ernährungsrahmen, der meinem Körper guttut hatte ich nach Jahren eine Basis geschaffen, um mein Alles-oder-Nichts-Denken noch ein Stückchen weiter loszulassen. Als ich mal wieder auf eine Packung Kinderriegel schaute und Angst und Panik spürte, fragte ich mich: Welchen Vorteil bringt mir das Alles-oder-Nichts-Denken? Schnell war ich wieder bei meinem Ausgangsthema, der Kontrolle. Ich kontrolliere, ob ich alles esse oder nichts. Aber wenn ich kontrollieren kann, ob die Packung dran glauben muss oder nicht, kann ich dann nicht auch kontrollieren, dass ich zwei Riegel raushole? Kann ich in zwei Riegeln genauso viel Kontrolle finden wie in null oder zehn? Ich probierte es aus. An vielen Tagen – ja, kann ich. An anderen Tagen – nein, kann ich nicht. Aber was ist das für eine Balance, wenn ich es in 10 von 10 Fällen immer schaffe, zwei zu essen? Ist das nicht vielmehr eine Konstante als eine Balance? Eine Balance sind doch mal zwei, mal fünf, mal null. Mal die ganze Packung und mal kein einziger Bissen. So ist das für mich. Vielleicht bin ich nicht die Person, die jeden Tag einen Riegel isst. Ich bin eher so: Eine Woche keine Schokolade, dann eine Tafel. Dann fühle ich mich von Zeit zu Zeit schon noch unsicher und schuldig. Doch heue lasse ich die Unsicherheit und die Schuld zu. Atme. Erinnere mich daran, wie weit ich schon gekommen bin. Erinnere mich daran, dass ich bestimme, was Balance für mich bedeutet. Erinnere mich daran, dass Essen einen Teil meines Lebens, aber nicht mein ganzes Leben füllt. Manchmal esse ich auch nur zwei Stückchen Schokolade und fühle mich seltsam normal. Was mir auch geholfen hat, ist Kontrolle außerhalb vom Essen zu finden: Ich kontrolliere, wann ich aufstehe und wann ich ins Bett gehe, was ich anziehe, wie tief ich atme. Außerdem darf ich mich regelmäßig im doppelten Sinn daran erinnern, dass ich keine Waage bin, sondern ein Mensch.

Meine Reise von 14 Mal pro Woche Sport zu einer freien Sportroutine verlief in ähnlichen Phasen: Erst lernte ich, das Vertrauen meines Körper aufzubauen, um mich wieder zu spüren. Für den einen bedeutet das eine Sportpause, für den anderen ist es, sich ganz bewusst zu bewegen. Als ich wieder mehr bei mir angekommen war, definierte ich „gesundes Sportverhalten“ für mich neu: Ich probierte 1000 Sportarten aus, machte mal um 5 Uhr Yoga und mal um 23 Uhr Krafttraining. Zuletzt ging es wieder darum, was der Vorteil vom Alles-oder-Nichts-Denken beim Sport ist. Ich war wieder bei der Kontrolle. Für andere ist es vielleicht eine Ablenkung, die einzige Möglichkeit, Selbstwert zu fühlen oder ein Mittel gegen Angst. Oft hilft eine Perspektive von außen, um wieder klar zu sehen. Ein Coach hat nicht nur einen neutralen Blick auf die Situation, sondern auch einen wissenschaftlichen Werkzeugkoffer, um die Themen mit Dir anzuschauen und zu lösen.

Denn Denken und Verhalten zu ändern, ist unbequem. An so vielen Tagen wollte ich aufgeben und wieder zu meinen bekannten Gewohnheiten zurückkehren. An so vielen Tagen war ich überfordert, besonders mit meinen Gefühlen. An so vielen Tagen dachte ich, dass ich die einzige Person auf der Welt bin, die zu schwach ist, um sich zu ändern. Und wenn Du manchmal im Drama-Modus bist, Sehen, Denken und Fühlen vermischst und nicht mehr ein noch aus weißt, dann hilft es, jemanden zu haben, der klar sieht und Dich wieder in die Gegenwart und die Realität bringt. Aus heutiger Sicht finde ich es sogar grob fahrlässig, alles alleine stemmen zu wollen. Ich weiß auch, dass Hilfe annehmen wahrscheinlich das letzte ist, was Du willst. Aber ich sag Dir was: Ich wollte das auch nicht. Jahrelang suchte ich ein Schlupfloch, um mich durchzumogeln. Aber der Durchbruch kam erst, als ich um Hilfe fragte. Vielleicht ist es jetzt auch an der Zeit für Dich.

Eine Sache, die ich gern früher gewusst hätte: Wenn Du aus dem Alles-oder-Nichts-Denken raus willst, bereite Dich auf die Rückfälle vor. Selbst wenn Du Dich in der einen Sekunde im Griff hast, kannst Du in der nächsten Sekunde wieder in Dein altes Denkmuster fallen. Egal wie sehr Du schon an Dir gearbeitet hast. Ein Rückfall heißt übrigens nicht, dass Du gescheitert bist. Für mich ist das sogar erstmal ein gutes Zeichen. Denn es zeigt mir, dass ich nicht mehr dort bin, wo ich angefangen habe. Wenn ich jetzt den Rückfall bewusst erlebe, bewusst akzeptiere und bewusst die Verantwortung dafür übernehme, refraime ich ihn sogar als Vorfall. Er zeigt mir, wie weit ich schon gekommen bin und bringt mich voran. Ich sage mir dann auch oft: Es ist ein unangenehmer Moment, kein unangenehmes Leben. Ich bin schon gespannt, wie viel Zeit bis zu meinem nächsten Vorfall vergeht und wo ich dann stehe.

Abschließend noch drei Gedankenanstöße:

  1. Hör auf, es Dir so einfach zu machen. Nichts auf dieser Welt ist zu 100 Prozent gut. Noch ist es zu 100 Prozent schlecht. Schau genau hin, siehe alle Facetten. Ein Mensch kann Dich verletzen, kritisieren und gegen Dich handeln, Dich aber gleichzeitig liebhaben. Akzeptiere die Vielseitigkeit. Erst die dunkle Seite lässt die helle durch ihren Kontrast strahlen. Das gleiche gilt übrigens auch für Deinen Körper. Er ist nicht zu 100 Prozent gut und auch nicht zu 100 Prozent schlecht. Du wirst immer Argumente für beide Seiten finden.
  2. Hör auf, zu verallgemeinern: „Immer treffe ich die falschen Entscheidungen.“ „Nie sage ich das richtige.“ „Jedes Mal versage ich.“ „Keiner mag mich.“ Hinterfrage Deine Gedanken: Ist das wirklich so? Hast Du wirklich noch nie eine gute Entscheidung getroffen? Hast Du wirklich noch nie Worte gesagt, die zur Situation gepasst haben? Hattest Du wirklich noch nie einen Erfolg in Deinem Leben?
  3. Du bist nicht Dein Verhalten. Du bist eine Person, die sich so verhält. Aber Du bist nicht Dein Verhalten. Du bist nicht, was Du tust. Wenn Du Dich idiotisch verhältst, bist Du kein Idiot.

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