Warum eine zerbrochene Windschutzscheibe manchmal besser ist als ein Lächeln

Was soll ich denn noch alles machen, um diese eine Person zu vergessen?
Seit einem Jahr habe ich sie nicht mehr gesehen, trotzdem ist sie jeden Tag in meinen Gedanken.
Ich habe Google gefragt: Wie lässt man eine Person los? – „Akzeptiere, dass es vorbei ist“, war die erste Antwort. Kein Problem für mich: Schon in meiner Ausbildung habe ich gelernt, nur über das zu berichten, was gerade wirklich ist. Gerade ist sie nicht mehr in meinem Leben.
Dann kam die Trauer. Kein Problem für mich: Die Meditationen im Internet gegen den Schmerz sind so ergiebig wie meine Tränenflüsse.
Und dann kam die Wut: Nein, Wut habe ich doch nicht. Wut ist was für Schwache. Da stehe drüber.
Sie postet eine Insta-Story, in der sie den Spaß ihres Lebens hat? – Ich liege alleine auf meinem Fußboden, aber ich bin doch nicht wütend. Ich lächle und gönne ihr.
Ich muss ihre Aufgaben übernehmen, weil sie gegangen ist – Es ist anstrengend, aber ich bin doch nicht wütend. Ich lächle, so schlimm ist es gar nicht.
Ich schaue alte Bilder an und stelle mir vor, was hätte sein können – Wehmut kommt in mir hoch, aber ich bin doch nicht wütend. Ich lächle, jetzt ist es doch auch schön.
Tage, Wochen, Monate. Teile meines Lebens liegen in Scherben, aber ich bin doch nicht wütend.
Mein Blut fließt nur ein bisschen schneller durch meinen Körper. Mir wird nur ein bisschen heißer als sonst. Meine Nasenflügel beben nur, weil ich gleich niesen muss.
Und dann haue ich mein Kissen gegen die Wand. Weil das noch nicht laut genug ist, scheppert direkt mein Kuli hinterher. Als ich mein Buch schon mit beiden Händen wurfbereit in Richtung Wand halte, gestehe ich mir ein: Ich bin wütend. Und ich kann die Wut nicht einfach weglächeln.
Heute weiß ich, dass mir meine Wut sagen wollte, dass ich mich durchsetzen soll anstatt alles mit einem Lächeln hinzunehmen. Heute weiß ich, dass Gefühle kommen und gehen wie Wellen, wenn wir sie zulassen. Heute weiß ich, dass ich stark genug bin, jede Emotion zu fühlen.
Damals wollte ich die Wut wegschieben. Immer, wenn ich merkte, dass mein Puls auch nur ein bisschen schneller ging, lenkte ich mich ab. Mit YouTube, Sport und positiven Affirmationen. Ich fühlte mich sogar klug dabei, denn Sport ist doch gut, um Dampf abzulassen. Doch ich nutzte das Training, um nicht fühlen zu müssen. Halte 5 Minuten eine Plank und sag mir bei 4.50, an was Du in Minute 1 gedacht hast.
Es war ein Segen, als ich mich plötzlich an einem klirrekalten Januarmorgen auf dem Schrottplatz vor einem alten Ford wiederfand, dass ich zertrümmern durfte. Und dann die Ernüchterung: Als ich den 6-Kilo-schweren Hammer in beide Hände nahm und auf die Windschutzscheibe schielte, spürte ich – nichts. Ich dachte an die Person und wartete auf die Wut. Und es kam – nichts. Resigniert holte ich doch zum Schlag auf das Auto aus. Und es passierte – nichts.


Nichts. Nach über 365 Tagen, mindestens ebenso vielen Podcasts und Tagebucheinträgen – passierte nichts. Ich hatte die Person kein bisschen losgelassen. Die Windschutzscheibe hatte ihre Halterung kein bisschen losgelassen. Obwohl ich draufgehauen hatte. In den Filmen funktioniert das doch auch immer. Kaputte Windschutzscheiben und Happy Ends. Das kann es doch jetzt für mich hier nicht gewesen sein.
Ich stelle mir vor, wie die Glassplitter durch die Luft fliegen und das Lenkrad freilegen. Der Sechs-Kilo-Hammer knallt auf die Frontscheibe des alten Ford. Mit voller Wucht schlage ich auf das Auto ein, springe dabei sogar, um noch mehr Schwung zu bekommen. Die Wut macht mit. Wut über meine eigene Ohnmächtig. Ich lasse den Hammer knallen. Ich-bin-kein-Opfer. Die Heckscheibe zerbirst in abertausende Glassplitter.
Vor mir sehe ich meine Zerstörungskraft. Ich habe einen Einfluss. Jetzt gerade, auf diesen alten Ford. Kurz bin ich erschrocken. Ich bewirke ja wirklich etwas. Dann macht sich Ausgelassenheit in mir breit. Und Tatendrang. Immer eindringlicher schmettere ich den Hammer gegen das Auto. Meine Wut breitet sich in meinem ganzen Körper aus und feuert mich an.
Meine körperliche Energie lässt zwar nach. Doch mental bin ich Feuer und Flamme. Ich will diesen Ford kleinkriegen. Glassplitter rieseln um mich herum. Auch der Scheinwerfer, der Außenspiegel und das Dach müssen dran glauben. Noch habe ich den Ford nicht klitzeklein geschlagen. Doch plötzlich beruhigt sich mein Atem, die Anspannung aus meinen Schultern und Armen löst sich und die Wut verlässt meinen Körper.
Ich habe die Wut vollkommen gefühlt und meinen Einfluss gesehen. Jetzt hat sie sich verabschiedet, auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal.
Ich habe losgelassen, obwohl ich den Hammer die ganze Zeit festgehalten habe. Ich denke an die Person, die ich gedanklich festhalte. Aus einem „Ich bin so wütend auf Dich“ wird ein „Danke für die Erfahrung.“
Vor mir liegt noch ein langer Weg des Loslassens. Doch immer, wenn die Wut vorbeischaut, begrüße ich sie und gebe ihr das, was sie braucht: Meine volle Aufmerksamkeit und Akzeptanz.