Die Studienzeit war die beste Zeit meines Lebens – haben sie gesagt. Die Studienzeit war die angstvollste Zeit meines Lebens – sage ich heute.

Unendlich lange Semesterferien, wilde Partys, Liebe und Freundschaft fürs Leben finden. Jede zweite
Vorlesung schwänzen und mit gekauften Zusammenfassungen die Klausuren bestehen. Massig Zeit
für Schlaf, Sex und Bier. Ich habe einige Menschen kennengelernt, die einen solchen Uni-Lifestyle
hatten. Sie saßen neben Arbeiterkindern, die drei Nebenjobs gleichzeitig hatten. Neben jungen
Müttern und 35-jährigen Zehntsemestern. Und neben mir.

Ich hatte meine sichere Ausbildung zur städtischen Verwaltungsfachangestellten mit unbefristeter
Übernahmegarantie abgebrochen, um Germanistik zu studieren. Von Einführungs- und
Qualifikationsphasen hatte ich ebenso wenig Ahnung wie von meiner Berufung oder meinem Beruf
nach dem Studium. Ich wusste nicht, was der Unterschied zwischen einer Vorlesung und einem
Seminar oder gar einem Tutorium ist. Ich wusste nicht, in welchen Räumen meine Kurse stattfanden
und wie ich mich vor- oder nachbereiten soll. Ich wusste nicht, wie man studiert oder was aus mir
werden sollte. Von dem Moment an, in dem ich meine Füße in die Bahn setzte, zog sich in mir alles
zusammen. Die Unwissenheit ließ mich nicht mehr in den Bauch atmen, trocknete meine Kehle aus,
vernebelte meine Gedanken.

Zwei Semester hatte ich, bevor Corona kam. Zwei Semester, in denen ich jedes von Dozenten
empfohlene Buch bis zum Stichwortverzeichnis und Impressum haargenau durchlas. Zwei Semester,
in denen ich dauerhaft eine Sehnenscheiden-Entzündung hatte und den Umsatz der Karteikarten-
Firmen massiv ankurbelte. Zwei Semester, in denen ich mich jeden Tag zu dumm, zu faul und niemals
gut genug fühlte. Mit jeder Prüfung, die ich bestand, fühlte ich mich immer mehr als größte
Hochstaplerin der Welt.

Mein drittes Semester begann im April 2020. Angst und Scham hatten sich vollends wie eine zweite
Haut über mich gelegt. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Inzwischen glaubte ich nicht mehr daran,
einen Bachelor-Abschluss zu bekommen. Ich glaubte nicht mehr daran, eine Zukunft zu haben. Ich
war jeden Abend überzeugt, dass mich Angst und Scham überwältigen und mir im Schlaf den Atem
rauben würden.

In den Zoom-Vorlesungen hörte ich von Lernpartys. Ich ging nie hin, hatte nicht mal WhatsApp-
Nummern von meinen Kommilitonen. Zumindest hatte ich durch Zoom endlich Namen zu den
Gesichtern, die ich zwei Semester lang an der Uni gesehen, aber nie angesprochen hatte. Egal ob
offline oder online – lieber hätte ich mein Studium abgebrochen, als freiwillig etwas zu sagen. Alle
konnten sich fachlich korrekt ausdrücken. Ich konnte nicht mal meinen Namen ohne Stottern sagen.
Bis zum letzten Punkt meiner Bachelorarbeit hatte ich in jeder Sekunde meiner Studienzeit das
Gefühl, gleich eine Anzeige wegen Plagiats zu bekommen. Ich war mir sicher, irgendeinen Satz des 40-
seitigen Regelwerks für Hausarbeiten missachtet zu haben. Drei Jahre lang wähnte ich mich mit
einem Bein im Gefängnis. Im Sommer dann mein Ergebnis: 1,7. Abschlussparty mit Bachelorhut,
rührseligen Vorträgen und Tanzen bis zum nächsten Morgen? Meine Feier war ein Briefumschlag mit
meiner Bachelorurkunde.

Ich ging so still und heimlich von der Uni ab, wie ich gekommen war.
Niemand kannte meinen Namen, niemand kannte meine Angst, niemand wusste, dass ich existiere.
Meine Studienzeit war sicher nicht die beste Zeit meines Lebens, aber bei weitem auch nicht meine
schlimmste. Nachdem meine Angst größtenteils abgeklungen war, besuchte mich allerdings die Wut.
Mein Blut schoss schneller durch meine Adern, wann immer ich auch nur das Wort „Studium“ hörte.
Mir hatte keiner geholfen, meinen Stundenplan zu erstellen, so wie ich es jetzt für andere tue. Mir
hatte keiner erklärt, wie man Bücher in der Bibliothek findet, so wie ich es jetzt für andere tue. Meine
90-minütigen Klausuren wurden wegen der Pandemie durch 20-seitige Hausarbeiten ersetzt. Mit den
meisten Dozenten hatte ich nur über E-Mail Kontakt. Ich war auf keiner einzigen Studentenparty. Ich
hatte keine einzige Uni-Freundschaft.

Vielleicht hatte ich mir von der Uni ein neues Leben erhofft. Doch ich nehme mich überall selbst mit
hin. Von alleine kommt das neue Leben nicht. Ich muss schon was tun. Ich lasse nicht nur meine Uni-
Zeit los. Ich lasse den Wunsch nach einer besseren Vergangenheit los.

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