„Warte nicht auf den perfekten Moment. Nimm den Moment und mach ihn perfekt.“ Ein fröhlicher Kalenderspruch, der motivieren soll. Leicht zu verstehen – doch schwer umzusetzen.
Wer hat früher nicht den passende Augenblick abgewartet, um die 4 in Mathe zu beichten? Wer hat nicht auf den romantischen Kerzenlicht-Moment gewartet, um seine Liebe zu gestehen? Und wer zögert nicht den
Moment heraus, an dem es nichts mehr zu tun gibt und es die besten Voraussetzungen gibt, mit dem kreativen Herzensprojekt anzufangen, wieder sportlich durchzustarten oder den Job zu wechseln?
Das ist auch gut so. Den Eltern die schlechte Note im Stau auf dem Weg zu einer Verabredung mitzuteilen ist sicherlich die schlechtere Wahl, als bis zum Abendessen damit zu warten. „Ich liebe Dich“ beim gemeinsamen Spaziergang zu sagen ist wesentlich eindrucksvoller, als es beim Thriller- Schauen zu tun. Sich vorzubereiten und einen Plan herauszuarbeiten ist viel nachhaltiger, als einfach blind drauf los etwas Neues anzufangen.
Doch wer hat bei all dem Warten auf den perfekten Moment schon mal die glückliche Gelegenheit verpasst? Gerade eben schien es noch machbar, doch plötzlich hat die Mama den Schulranzen durchsucht und die Klassenarbeit gefunden. Plötzlich hat die große Liebe beim Feiern einen neuen
Partner kennengelernt. Plötzlich hat sich jemand anderes auf die Stelle beworben und den Job gekriegt. Doch wie findet man die Balance zwischen Warten und Machen? Und kann man einen verpassten Moment wiederholen?
Mein Gehirn ist sehr gut darin, sich perfekte Momente auszudenken. Bis aufs Wort genau höre ich perfekte Momente. Bis auf den Blickkontakt genau sehe ich perfekte Momente. Bis auf die Berührung
genau fühle ich perfekte Momente. Wenn ich nicht einschlafen kann, denke ich mir stundenlang aus, wie es wäre, mit dieser oder jener Person befreundet zu sein. Der perfekte Moment, um eine Freundschaft mit mir zu beginnen ist, wenn es Dir nicht gut geht. Ich fühle mich nämlich am besten, wenn ich jemandem erstmal helfen kann. Und das geht eben am besten, wenn derjenige mit einem
Problem nicht gut fertig wird, traurig und wütend ist, nicht mehr weiter weiß. Dann kann ich meine besten Coachingtools auspacken und erstmal geben, geben, geben. Wenn ich das so zehn Mal gemacht habe, fühle ich mich in meinem Gedankenspiel bereit, auch mal für einen kleinen Moment zu empfangen. Ein Danke, ein offenes Ohr, eine Umarmung. Der perfekte Moment für Freundschaft ist, wenn ich das Gefühl habe, dass ich vorerst genug gegeben habe. Dieses Gefühl habe ich noch
nicht erreicht.
Um die Balance zwischen Warten und Machen zu finden, habe ich jedoch trotzdem schon versucht, mit unperfekten Umständen eine Freundschaft zu beginnen. Das führte zu Peinlichkeiten, Missverständnissen und jeder Menge Situationen, die man einfach nicht braucht. Das führte aber auch zu kleinen Marmeladenglas-Momenten. Zu ungeplantem Lachen. Zu weniger Sorgen und mehr
Freude.
Manchmal warte ich aber so lange, bis ich den perfekten Moment verpasst habe. Gerade war noch ein guter Moment, meinen Schwarm anzusprechen. Er lief auf der Party alleine durch den Saal, auf der Suche nach jemandem oder etwas zu trinken. Ich sah es, sah die Gelegenheit, wollte eigentlich
gehen – doch vertraute dem Moment nicht. Vertraute nicht darauf, dass er sich freuen würde, wenn ich ihn anspreche. Sah einen perfekten Moment und ein Horrorszenario gleichzeitig. Dann sah ich, wie er sich zu seinen Kumpels stellte und beides war vorbei. Was sollte ich tun? Auf einen weiteren
perfekten Moment hoffen? Den unperfekten Augenblick nehmen und einfach in die Männermengereinlaufen? Was ist, wenn gar kein weiterer perfekter Moment kommt? Wenn ich meine einzige
Chance schon verpasst habe? Heute vielleicht. Doch was ist morgen? Vielleicht kann ich einen Brief schreiben. Vielleicht kann ich mir selbst eine neue Chance geben, einen neuen perfekten Moment. Vielleicht kann ich mich auch von Perfektion lösen.
Und dann gibt es noch Momente, die ich eigentlich als komplett unperfekt empfinde, die aber plötzlich perfekt werden. Eine Sportstunde, in die ich mich müde und unmotiviert geschleppt habe.
Doch nach einer Stunde bin ich völlig energiegeladen, erfüllt von tollen Gesprächen mit den Teilnehmern und innerlich zufrieden nachhause gegangen. Ein erwartetes Donnerwetter auf der Arbeit, das in gegenseitigem Verständnis, Mitgefühl und Unterstützung endet. Eine Fastnachtskampagne, die ich einen Tag vor Weiberfastnacht für mich abgeschrieben hatte. Die am Aschermittwoch damit endete, dass ich Samstagnacht spontan Urlaub für Rosenmontag und Fastnachtsdienstag nehme, weil ich mich seit langem nicht mehr so frei und geliebt gefühlt habe.
Manchmal frage ich mich, ob der perfekte Moment nur eine Illusion ist. Doch in meinen
Gedankenspielen gibt es ihn. Und alles, was man sich ausdenken kann, kann doch auch wahr werden.
So, oder noch viel schöner. Unperfekt perfekt.
