Vom Scheitern, vom Sein – vom gescheitert sein – und ein Gespräch mit meinem 5 Jahre älteren Ich.
Ich habe wahnsinnig Angst vorm Scheitern. Ich habe Angst, dass mich alle, die mich heute mögen, morgen ablehnen und ausgrenzen. Weil ich was Falsches gesagt oder gemacht habe.
Ich habe Angst, an mir selbst zu scheitern. An meinem begrenzten Verstand. An meiner Bequemlichkeit. An meiner Unaufmerksamkeit. Ich habe Angst, an meiner Angst zu scheitern.
Ich habe Angst, als Freundin zu scheitern. Durch ein unangebrachtes Wort. Durch falsche Prioritäten. Durch meine Unwissenheit, nicht zu wissen, wie ich eine Freundin sein kann.
Ich habe Angst, in meiner beruflichen „Karriere“ zu scheitern. Ich muss das in Anführungszeichen setzen, weil ich nicht das Gefühl habe, dass ich in meinem Job vorankomme. Vielmehr habe ich hier schon das Gefühl, dass ich jeden Tag ein bisschen mehr scheitere.
Ich habe Angst, die Kurve nicht zu kriegen und zu scheitern.
Ich habe Angst, dass ich meine Ziele nicht erreiche. Ich habe Angst, dass ich es nächste Woche nicht mehr schaffe, Artikel auf meinem Blog zu schreiben. Ich habe Angst, dass mein Projekt Blog scheitert. Obwohl ich als einziges Ziel „50 Blogposts in 2024“ festgelegt habe. Ich habe Angst, selbst daran zu scheitern.
Ich habe Angst, mit meinem Leben zu scheitern. Ich habe Angst, dass ich mein Leben verwirke. Ich habe Angst, dass ich mit meinem Leben nicht das tue, wofür ich hergekommen bin.
Wer sagt, dass ich scheitere? Ich. Ich bestimme. Und ich habe schon oft bestimmt, dass ich gescheitert bin. Meine sichere Ausbildung abzubrechen für ein Studium ohne Jobperspektive? – Ich bin gescheitet. Den Kontakt zu meiner besten Freundin abzubrechen, weil ich dachte, ich wäre mittlerweile etwas Besseres als sie? – Ich bin gescheitert. Von 14 Mal Sport pro Woche auf 5 Mal runterzugehen und mein Sixpack zu verlieren? – Ich bin gescheitert.
In meinen Augen bin ich schon unzählige Male gescheitert. Scheitern fühlt sich für mich so an, als wäre ich komplett abgetrennt von der Welt. Als wäre ich ein Alien, der unfähig ist, ein Mensch zu sein. Es ist paradox: Obwohl Scheitern menschlich ist, fühle ich mich unmenschlich. Scheitern kommt bei mir oft in Begleitung von Hoffnungslosigkeit. Ich denke dann: Egal was ich tue, es ist nie genug. Egal wie sehr ich es versuche, irgendwann werde ich es immer verkacken und alles verlieren. Egal was passiert, ich werde niemals die Kurve kriegen und das Leben haben, was ich mir wünsche.
‚Es war alles umsonst und jetzt ist es eh egal‘
Vor dem Scheitern habe ich einen Plan, ein Ziel, eine Richtung. Dann scheitere ich und plötzlich ist da diese Ungewissheit. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. ‚Weil jetzt ja eh alles umsonst war und egal ist.‘ Ich weiß nicht mehr, welches Ziel ich erreichen kann. Ich weiß nicht mehr, welche Richtung sich für mich lohnt. Manchmal suhle ich mich dann im passiven Selbstmitleid. Oder ich falle in alte, destruktive Verhaltensmuster zurück ohne zu glauben, dass ich es wieder rausschaffe. Alles scheint aussichtslos.
Wenn ich scheitere, fehlt mir mein Wille. Meine Entschlossenheit, für mich loszugehen. Meine Entscheidung, jetzt dranzubleiben, egal was passiert. Und zwar zuerst und am wichtigsten innerlich dranbleiben. Mit meinem Herzen dabeibleiben. Mich immer wieder für mich entscheiden.
Es ist doch paradox: Ich habe Angst, zu scheitern. Gleichzeitig bin ich schon so oft gescheitert. Ich weiß, wie sich scheitern anfühlt. Eigentlich habe ich nicht Angst vor dem Gefühl. Ich habe Angst, dass dieses Gefühl und meine damit einhergehenden Gedanken, meine innere Einstellung, für immer so bleiben. Obwohl ich als ausgebildeter Emotionscoach und durch eigene Erfahrung weiß, dass Emotionen kommen und gehen wie Wellen.
Wie kann ich die Angst vorm Scheitern loslassen?
Ich gebe mir innerlich die Erlaubnis, zu scheitern. Ich fange eine neue Aufgabe an und sage mir: Es ist okay, wenn Du scheiterst. Es ist okay, wenn die Dinge nicht so laufen, wie Du geplant hattest. Es ist okay, wenn Du den Plan verlässt. Es ist okay, wenn Du Dich mal einen Tag lang nicht mit der Aufgabe befasst. Es ist okay, wenn Du kein Bock hast. Es ist okay, wenn Du Dich der Aufgabe nicht gewachsen siehst. Es ist okay, wenn Du glaubst, dass Du nicht gut genug bist. Es ist okay, wenn Du aufgeben willst. Denn Du bist okay. Du bist okay. Und weil Du okay bist, entscheidest Du Dich für Dich. Vielleicht ist das gleichzeitig eine Entscheidung, an der Aufgabe dranzubleiben und sie abzuschließen. Vielleicht ist das gleichzeitig eine Entscheidung, die Aufgabe abzubrechen, um Hilfe zu bitten, was Neues anzufangen. Es ist aber immer eine Entscheidung für Dich.
Ich gebe mir voll und ganz die Erlaubnis, ich zu sein. Mit allem, was ich gerade bin. Ich erlaube mir, gescheitert zu sein. Ich erlaube mir, zu scheitern. Das bringt mir Entspannung, Frieden und Sicherheit in mir. Und mit dieser Entspannung und Bewusstheit habe ich einen weiten Blick. Mit meinem weiten Blick sehe ich kreative Möglichkeiten, alternative Wege und lade meine Intuition ein. Dinge, die ich mit meiner Angst vorm Scheitern nicht sehen kann, weil Angst meinen Blick einengt als hätte ich Scheuklappen auf.
Ich lasse meine Angst vorm Scheitern los, indem ich mir erlaube, zu scheitern.
Aber was ist, wenn ich noch nicht bereit bin, mir diese Erlaubnis zu geben? Wenn der Perfektionismus reinkickt. Wenn ich will, das andere Menschen ein perfektes Bild von mir haben? Wenn ich vor mir selbst Scheitern erlaube, es aber um jeden Preis nach außen verstecken möchte?
Dann kommen erstmal Stress, flacher Atem, enger Hals, Angst, Schuld, Scham, Trauer, Wut. Ich nehme es wahr. Kloß im Hals. Knoten im Bauch. Schmerzen im Kopf. Ich nehme es an. Es ist, wie es ist. Ich atme tief. 5 Mal ein. 5 Mal aus. Dazu noch ein bisschen Vergebung, vielleicht klopfen. Dann höre ich „The Tortured Poets Department“ auf Dauerschleife und versuche dazu ein paar Schritte zu laufen.
Wenn ich ruhiger und klarer bin, stelle ich mir nochmal die Frage: Was ist, wenn ich vor mir selbst Scheitern erlaube, es aber um jeden Preis nach außen verstecken möchte?
Ich schäme mich. Für mein Verhalten. Für meinen Kontrollverlust. Für mein Aussehen. Für mich selbst. Wenn ich an mein Ich in 5 Jahren denke, schämt sich dieses Ich nicht. Es hat ja auch leicht reden, denn es ist erfolgreich. Hat einen Weltbestseller veröffentlicht, ein Sportprogramm für mehr Lebensfreude entwickelt und Frieden mit Fehlern geschlossen. Wie ist mein fünf Jahre älteres Ich dahin gekommen?
Ein Gespräch mit meinem 5 Jahre älteren Ich
Es geht nicht ums Gewinnen, es geht ums Sein.
Ich schäme mich für mein Sein.
Kannst Du Sein und Dich Schämen?
Ja.
Deine Scham zerstört Dich nicht. Denn Du bist ja noch. Scheitern zerstört Dich auch nicht. Denn Du bist immer noch. Du bist vielleicht nicht da, wo Du sein möchtest, aber Du bist. Du bist vielleicht nicht das, was Du sein möchtest, aber Du bist.
Und was bringt mir das Sein?
Muss es Dir denn was bringen?
Ich weiß nicht.
Wenn Dir Dein Sein nichts bringt, dann musst auch Du selbst nichts bringen. Dann musst Du keine Leistung bringen. Nicht für Dein Sein. Nicht für das Sein anderer.
Aber ich muss doch was tun?
Du tust doch schon die ganze Zeit was.
Es kommt mir nicht so vor.
Woran siehst Du denn, dass Du etwas tust?
Ich erschaffe etwas, was andere von außen sehen können. Eine schweißtreibende Sportstunde, ein anregender Artikel, ein tröstendes Telefonat.
Deinen Herzschlag siehst Du nicht und trotzdem ist er da. Auch Deinen Selbstwert kannst Du nicht sehen und trotzdem ist er da. Deine Liebe kannst Du nicht sehen und trotzdem ist sie da. Es ist da und es tut was – ob sichtbar oder nicht. Es geht nicht darum, Deinen Selbstwert zu sehen. Es geht darum, Dein Selbstwert zu sein.
Wie kann ich mein Selbstwert sein?
Du kannst nicht nicht Dein Selbstwert sein. Du kannst aber aufhören, alles zu sein, was nicht Dein Selbstwert ist. Du kannst aufhören, all die Ablenkungen drumherum zu sein. Dann ist es leichter, Du zu sein.
Scheitern, Sein – gescheitert sein
Ich habe keine Ahnung, ob das hier jetzt irgendwem irgendwas gebracht hat. Oder mir. Manchmal habe ich selbst kein Bock mehr auf Reflektieren, Nachdenken, Woke-Sein und Persönlichkeitsentwicklung. Manchmal will ich einfach nur Sein. Und in den Arm genommen werden.
So und zum Abschluss dieses abstrusen Blogposts noch zwei Fragen aus meiner Emotionscoach-Ausbildung zum Umgang mit Scham, denen ich mich auch schon gewidmet habe.
Was hilft mir, mich voll und ganz zu akzeptieren, mich mit meinen Schwächen zu versöhnen?
Wie kann ich aufhören, gegen meine Werte und gegen meine Moral zu handeln?
