Vom Drang, alles sofort zu erledigen – selbst um drei Uhr nachts. Und von vielen Schafen.

Ich konnte noch nie so richtig verstehen, warum Leute wichtige Aufgaben, Lernen fürs Studium oder die Steuererklärung so lange aufschieben, bis sie in ernsthafte Zeitnot geraten. Warum sie prokrastinieren, erst ihre ganze Wohnung putzen, hundert Dinge gleichzeitig statt eine mit Fokus machen und sich von der nächsten Insta-Nachricht ablenken lassen.

Bei mir das Gegenteil der Fall. Schon in der Schule war ich das Kind, das erst die Hausaufgaben gemacht und danach zu Mittag gegessen hat. Egal ob ich um 14 Uhr oder um 17 Uhr mit allen Fächern fertig war – vorher etwas anderes zu machen bedeutete für mich zu versagen. Wenn ich heute auf der Arbeit eine Deadline bis Freitag gesetzt bekomme, muss ich sie für mich bis Mittwoch abgearbeitet haben. Wenn ich erst am Freitag fertig bin, fühlt es sich für mich an, als wäre ich gescheitert. Außerdem kann ich dann ab Mittwoch noch Zusatzaufgaben machen, anderen helfen und meinen (Selbst)Wert weiter steigern. Für mein Denkens- und Verhaltensmuster gibt es sogar einen Namen: Präkrastination – der Drang, alles sofort zu erledigen. Dass es manche Dinge gibt, die ich besser später als sofort erledigen sollte, kann ich nur schwer nachvollziehen.

Dazu bin ich auch extrem ehrgeizig. Mein Studium trotz Corona-Pandemie in der Regelstudienzeit abzuschließen, war für mich ein Fall von Selbstverständlichkeit statt von Fleiß. Ich war bestimmt fleißig, aber ich habe es nie gesehen und sehe es auch heute nicht, obwohl jede Klausur wegen den Online-Semestern durch 20-seitige Hausarbeiten ersetzt wurde. Selbstverständlich behalte ich das Pensum bei, auch wenn eine Hausarbeit länger dauert als eine Klausur. Für mich und meine Ziele selbstverständlich. Heute bin ich beruflich die Person, die an ihrem 30. Geburtstag schon so viel geschafft haben möchte wie andere mit 60 Jahren. Wenn ich mit meinen Aufgaben fertig bin und die von anderen übernehme sowie ständig Krankheits- und Urlaubsvertretungen mache, ist das für mich selbstverständlich, um voranzukommen. Im Büro bin ich deswegen auch überangepasst, habe kaum Grenzen und merke erst hinterher, wenn ich ausgenutzt werde.

Vielleicht klingt das für Menschen, die nicht in meinem Kopf sitzen, sehr stressig. Für mich ist es normal. Ich habe immer schon so gedacht, mindestens seit der Grundschule. Und mein Verhaltensmuster hat mich schon sehr vorangebracht. Gute Noten an der Uni, Anerkennung im Job, offene Karrieretüren. Doch jedes Verhalten hat eine angenehme und eine unangenehme Seite. In meinem Fall bedeutet das, gedanklich niemals abschalten von der Arbeit (in meinem Job gibt es 24/7 was zu tun). Ich bin schon mehr als einmal Samstagnacht aufgewacht und habe den Arbeitslaptop angeworfen. Nie war das Arbeiten mein Schlafentzug wert, aber ich konnte kein Auge zu machen, bevor ich es nicht erledigt hatte. Durch meinen Drang, alles sofort zu erledigen, liegt mein Fokus häufig auf mir und der Gegenwart. Wenn das passiert, bin ich wirklich unaufhaltbar und sehr produktiv. Aber wie oft ist der Arbeitsload einfach zu viel für einen Tag und ich drifte mit meinen Gedanken in die Zukunft ab. Statt einfach zu tun denke ich: „Ich arbeite zu langsam und schaffe nie, alles heute abzuarbeiten.“ So verliere ich wertvolle Energie, die ich zum Umsetzen nutzen könnte. Manchmal verliere ich mich auch im Vergleich mit anderen: „Ich wünschte, ich wäre so gelassen und entspannt wie mein Kollege, bei dem sich die Arbeit im kreativen Chaos auch mal stapeln und der auch mal Nein zu einer Aufgabe sagen kann.“

Gerade in meinem letzten Gedanken zeigt sich, was ich tun kann, um meine Präkrastination loszulassen. Mehr Gelassenheit und Entspannung in mein Leben einladen, Fünf gerade sein lassen und Grenzen setzen. Große Worte, die ihre Macht in kleinen Taten entfalten: Die Aufgabe mal nur einen Tag statt drei Tage vor der Deadline abschließen. Feierabend machen, wenn neun Stunden um sind statt alle Aufgaben erledigt. Eine neue Aufgabe ablehnen. Akzeptieren, dass die Arbeit auch ohne mich klarkommt. Dass die Welt nicht untergeht, wenn ich nicht sofort handle. Dass vielleicht sogar andere Menschen meine Aufgaben genauso gut oder besser machen können. Die Arbeitsmenge ist gerade so hoch, wie sie eben ist. Das akzeptiere ich. Gleichzeitig übernehme ich bewusst Verantwortung für alle Aufgaben. Einige gebe ich ab, einige mache ich in den nächsten Tagen, einige mache ich sofort. Einige müssen vielleicht beim zweiten Blick morgen gar nicht gemacht werden. Ich mache aus der Arbeitsmenge das, was ich will statt mein automatisiertes „Alle Aufgaben sofort“ ablaufen zu lassen. Nicht immer. Aber immer öfter.

An einem Dienstag, der noch nicht so lange vergangen ist, hatte ich einen ultravollen Terminkalender. Die erste Aufgabe war ein Gespräch mit einem Schäfer. Ich war tiptop vorbereitet und war in Rekordzeit mit dem Interview fertig. Alles, was mich vom Anfangen meines zweiten To-Dos abhielt, war ein Foto, was gemacht werden wollte. Der Schäfer fuhr mit mir auf die Wiese. Schon die Autofahrt dauerte mir zu lange und strapazierte meinen Geduldsfaden, während ich nach außen lächelte und wie der freundlichste Mensch der Welt wirkte. Als wir endlich bei den Schafen angekommen waren, freute sich der Schäfer so sehr, seine 450 Tiere wiederzusehen, dass für ihn wohl Zeit nicht mehr existierte. Er hielt Ausschau nach einem bestimmten Schaf, bekam bei den Lämmern noch glänzendere Augen und grüßte mit seinem Blick alle Tiere einzeln. Mir blieb nichts anderes übrig als zu warten, bis er mich wieder neben sich stehend wahrnahm. Ich stand einfach nur da. Blickte über grasgrüne Wiesen ins weite Nichts. Spürte den Aprilwind in meinen Haaren. Saugte die klare Luft in mir auf. Beobachtete die Schafe aus allernächster Nähe. Und vergaß meinen Termindruck. Die weiterziehenden Uhrzeiger. Dass ich arbeiten und ein Foto machen musste. Wiese, Schafe, Luft. Wiese, Schafe, Luft. Wiese, Schafe, Luft. Irgendwann fiel es mir wieder ein, meine Fotoaufgabe. Mein Bauch und meine Hände zuckten unruhig. Ich wollte sofort handeln. Schnell schnell den Schäfer und seine Tiere ins rechte Licht rücken. Doch mein Blick war immer noch in die Weite der Wiese gerichtet, Wind und Luft durchströmten mich innen wie außen. Ich nahm mir bewusst noch einen Atemzug vor dem Foto. Und noch einen. Einen noch. Ich merkte, wie sehr sich meine Schultern nach unten zogen, entspannten. Die schwere Last, die ich mir teilweise selbst aufgebürdet hatte, nahm ich jetzt erst bewusst war. Und ließ sie mit dem Wind ziehen in die Weiten der Wiesen. Ein Moment, in dem in meinem Kopf unerledigte Aufgaben neben Schafen existieren konnten. Ein Moment für mich.

Auch außerhalb meines Jobs ist es Stück für Stück Zeit, loszulassen. Nicht sofort aufzuräumen, wenn ich gebastelt habe, sondern das Chaos mal fünf, mal zehn, mal zwanzig Minuten zuzulassen. Das Schreiben der Geburtstagskarte nicht in der ersten freien Minuten, sondern nach einem kleinen Spaziergang zu erledigen. Meinen Fokus auf den Prozess richten, nicht auf das Ergebnis und das Abhaken des nächsten To-Dos.

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