Über die Polarität von Liebe und Schmerz

Am Freitag hatte ich meinen letzten Arbeitstag in meinem bisherigen Job. Die Entscheidung, meinen Job zu wechseln, habe ich aus Liebe getroffen. Ich schließe die Tür zu meiner Redaktion in Frieden. Dankbaren Schrittes laufe ich ein letztes Mal die Stufen des Verlagsgebäudes hinab. Ich lasse diesen Abschnitt meines Lebens in Liebe los. In Liebe zu allem, was ich hier erlebt habe. In Liebe zu allen Menschen, denen ich begegnet bin. In Liebe zu mir selbst. Ich laufe ein letztes Mal die Hauptstraße entlang, die ich schon tausende Mal entlanggelaufen, gerannt, gekrochen bin. Dabei kehren alle Teile von mir, die dort noch irgendwo lagen, jetzt zu mir zurück. Und alle Teile, die ich von anderen übernommen habe und die nicht zu mir gehören, gehen jetzt von mir weg. 

Wenige Stunden später sage ich am Telefon, dass es mir gut geht. Dass ich in Frieden bin. Dass ich dankbar bin. Und ich meine es aus vollem Herzen so.

Dann spüre ich eine tiefe Traurigkeit. Ich höre mich noch sagen: „Ich bin so traurig.“ Dann überkommen mich Erinnerungen an mein altes Arbeitsleben. Tränen laufen meine Wangen herunter. Ich gebe mich der Trauer hin. Sie nimmt mich ein, ich kann nichts mehr denken und ich versuche es auch nicht. Ich vertraue der Traurigkeit. Meine Kehle wird eng, ein riesiger Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich bin so traurig. Erinnerung über Erinnerung kommt. Ich weine ohne Hemmungen. Ich spreche aus, was in mir hochkommt, ohne darüber nachzudenken, was mein Gegenüber am Telefon denkt. Ich halte nichts zurück. 

Und dann geht die Traurigkeit wieder mit einem kleinen Schluchzen. Meine klare Sicht und meine Gedankenkontrolle kommen zurück. Ich spüre Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass ich ein Berufsleben hatte, dass mich zu Tränen rührt. Dankbarkeit für mich, dass ich mir mehr wert bin. Dankbarkeit für mein Gegenüber am Telefon, dass ich ohne Bewertung voll und ganz meine Trauer ausdrücken konnte. 

Dann fühle ich wieder den inneren Frieden vom Türzuziehen und die Liebe zu mir selbst. Doch ich spüre sie jetzt viel intensiver als vorher. Die Trauer war für mich gekommen, um mich noch mehr an die Liebe in mir zu erinnern. Und dass ich in diesem Prozess gehalten wurde, von meinem Gegenüber am Telefon, von Gott, und von mir selbst, ist das schönste Geschenk überhaupt.

Ich erkenne: Auch in Entscheidungen aus Liebe steckt Schmerz. Mich der vollen Entscheidung hingeben heißt, mich der Liebe und dem Schmerz gleichermaßen hingeben. Und hinter dem Schmerz entdecke ich noch so viel mehr Liebe. Liebe lässt los. Damit da Platz ist für Freiheit und noch mehr Liebe.

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