Meine Learnings aus einem halben Jahr ohne Koffein und mein Rückfall

Am 1. März habe ich aufgehört, Koffein zu konsumieren. Keine Energy Drinks, keine Cola, kein Kaffee. Ich kam aus einer Lebensphase, in der es für mich normal war, pro Tag zwei Monster Zero zu trinken. Und zwar nicht die kleinen, sondern je einen halben Liter. Neben dem offensichtlichen Grund, dass dosenweise Koffein, Taurin und Aspartam nicht gerade gesund für meinen Körper sind, wollte ich damit auch wieder lernen, auf meine eigene Energie zu vertrauen. Weitere Konsequenzen: Weniger Angstzustände wegen Koffein als Hochsensible, mehr Fokus auf ausreichend Schlaf und ein bisschen mehr Geld im Portemonnaie.

Tag 1: Mein Kopf explodiert. In meinem Kopf sitzen tausende Bauarbeiter, die mit kleinen Hämmern gegen meinen Schädel hauen. Ich kann mich überhaupt gar nicht konzentrieren, kaum zuhören, nur mit Anstrengung klar sehen.

Tag 2: Ich bin unendlich müde. Und ich habe Kopfschmerzen. Und außerdem schmeckt so ein weißer Monster Energy schon ganz gut und ich vermisse den süßlich-klebrigen Geschmack auf meiner Zunge.

Tag 3: Ich habe nicht mehr dauerhaft Kopfschmerzen. Aber wenn das Pochen beginnt, hämmert es mit einer unerwartet heftigen Wucht gegen meine Schädeldecke. Ich habe einfach Schmerzen. Und könnte mich schon um 11 Uhr schlafen legen.

Tag 4: Halt die Fresse – möchte ich jedem sagen, der irgendwas von mir will. Ich bin viel zu gereizt, um irgendwas für irgendwen tun zu können. Selbst wenn ich wollte. Ich bin unendlich schläfrig, könnte im Vier-Augen-Gespräch sofort wegnicken.

Tag 5: Kopfschmerzen sind am Start. Mit Energy Drinks war vieles leichter. Klar denken zum Beispiel. Ich trinke nicht gern Kaffee, aber heute erscheint mir der Automat im Großraumbüro so verlockend wie noch nie. Zwar kein klebrig-süßlicher Geschmack, aber immerhin Koffein. Energie. Energie in meinem Körper spüre ich nicht. Vielleicht sollte ich abbrechen. Vielleicht ist einfach keine Energie in mir. Vielleicht brauche ich Koffein einfach, um zu funktionieren.

Tag 6: Ich denke ernsthaft darüber nach, wieder eine weiße Energy-Dose zischen zu lassen. Meine Lippen an das Plastik anzusetzen, kleine Kohlensäurebläschen an meinem Mund zu spüren und das Taurin-Koffein-Aspartam-Gemisch meinen Rachen runterfließen zu lassen. Das einzige, was mich davon abhält, ist die Tatsache, dass ich die letzten fünf Tage nicht umsonst gelitten haben möchte.

Tag 7: Langsam zweifle ich an Doktor Googles Aussage: Die Symptome halten zwischen 1 und 9 Tagen an. Ich bin zwar noch im Zeitrahmen, aber einen großen Unterschied zwischen Tag 1 und Tag 7 merke ich nicht. Tag 3 war bislang der beste Tag – aber danach ging es wieder stetig bergab mit meinen Kopfschmerzen, meiner Müdigkeit, meiner Unlust und Gereiztheit auf alles. Nur noch zwei Tage, danach kann ich aufhören.

Tag 8: Heute fängt das Hämmern in meinem Kopf erst um 11 Uhr an. Auch nachmittags gibt es nochmal eine zweistündige Pause. Die veranlasst mich dazu, zu glauben, dass wenigstens doch ein kleines bisschen Energie in mir ist. Und allein dafür haben sich die Qualen der letzten Tage schon gelohnt. Ich bin dankbar für meine Energie, auch wenn sie nur zwei Stunden da war. Jetzt weiß ich, dass sie ist. Dass sie wirklich ist.

Tag 9: Final Countdown. Ich hätte es nicht geglaubt, aber es geht mir heute wirklich so gut wie in den ganzen letzten neun Tagen nicht. Ich habe phasenweise sogar mehr Energie als mit meinen Energy Drinks. Plötzlich bin ich erschrocken, was ich meinem Körper mit dem ganzen Koffein angetan habe. Entrüstet, dass es mir eigentlich Energie genommen statt gegeben hat. Und dankbar, dass neun Tage durchgehalten habe. Ich speichere mir diese innere Stärke ab, für schlechte Zeiten.

Tag 10: Alles schön und gut, Energie und Dankbarkeit hin oder her. Ich will den Energy Drink jetzt nicht, um mich wacher zu fühlen. Ich will ihn aus Gewohnheit. Das Öffnen der Dose gibt mir ein Gefühl von Kontrolle, Sicherheit, Vertrautheit, Wärme, Entspannung. Jetzt, wo ich meine körperlichen Symptome größtenteils überwunden habe, kommt also die mentale Arbeit. Wie kann ich mir selbst Sicherheit, Vertrautheit und Entspannung geben ohne Koffein?

Tag 30: Irgendwo hab ich mal gelesen, dass es 30 Tage braucht, um eine Gewohnheit aufzubauen. Und auch wenn ich im Rewe immer noch sehnsüchtig am Energy-Drink-Regal vorbeilaufe und nach den blauen und weißen Dosen lechze, genieße ich auch die Unabhängigkeit von den süßen Säften. Ich habe tatsächlich weniger Kopfschmerzen. Das ist es, was mich davon abhält, wieder eine Dose zum Zischen zu bringen. Ich weiß genau, dass mein Kopf wieder explodieren würde, wenn das Koffein meinen Rachen runterläuft. Ich will weder diesen Gefühl noch will ich wieder von vorne anfangen mit dem Entzug, der mir ebenfalls die krassesten und unnötigsten Kopfzerbrechen bereitet.

Tag 63: Frei von Koffein zu sein bedeutet auch, keine überteuerten Energy Drinks am Hauptbahnhof kaufen zu müssen. Meine Reise wird direkt zehn Euro günstiger, mein Kopf zehn Kilo leichter.

Tag 88: Warme Sommertage sind einfach besser mit Wasser als mit Koffein. Ich stehe mit der Sonne auf und ich gehe mit der Sonne ins Bett. Ich bin wach, wenn es hell wird. Und ich bin müde, wenn es dunkel wird. So leicht und unbeschwert fühlt sich mein Sommerglück an.

Tag 94: Ich vertraue meiner Energie. Ich weiß jetzt, dass ich keine Panik haben brauche, wenn ich mal morgens um 9 Uhr 0,0 Prozent Energie habe. Dann hilft mir kein Energy Drink. Dann helfen mir ein Moment für mich, fünf tiefe Atemzüge und Vertrauen. Meine Energie kommt dann vielleicht nicht um 9.01 Uhr. Aber vielleicht um 9.17 Uhr. Und es ist meine pure Energie, nicht vermischt mit Koffein, Aspartam und Taurin.

Tag 109: Manchmal frage ich mich, warum ich früher so schlecht einschlafen konnte. Nach spätestens drei Stunden aufgewacht bin. Und trotz acht bis neun Stunden Schlaf so müde und ausgelaugt aufgestanden bin, dass der Energy Drink am Morgen für mich so notwendig war wie das Zähneputzen. Heute schlafe ich, wenn mir die Augen zufallen und ich schlafe durch. Ich merke, wenn es mal nur 5 Stunden sind. Aber ich merke auch, dass mein Körper und meine Energie das ausgleichen können. Koffein ist kein Wunder. Koffein ist nur ein Aufputschmittel. Mein Körper ist ein Wunder.

Tag 113: Wasser macht mich wacher als Koffein. Es ist unglaublich, was passiert, wenn ich regelmäßig Wasser trinke. Jede Stunde ein paar Schlucke beleben meine Körperzellen mehr als ein halber Liter Energy Drink auf Ex. Ich klinge wie ein Gesundheitsratgeber, aber es fühlt sich für mich wirklich so an. Hättest Du mir das im Januar gesagt, hätte ich gelacht und mir lieber noch ein Red Bull mehr gekauft. Veränderung ist möglich. Jeder kann es schaffen.

Tag 122: Ich fühle mich sehr natürlich. Meine Haut ist nicht perfekt, aber ich habe weniger Rötungen als sonst. Meine Hände fühlen sich mehr nach mir an. Mein Hals ist irgendwie ruhiger, friedlicher.

Tag 136: Ich bin innerlich ruhiger geworden. Ich mache nicht mehr so viel gleichzeitig. Wenn ich aufräume, räume ich auf – ohne nebenher Podcast zu hören. Wenn ich Auto fahre, fahre ich Auto – ohne nebenher Musik zu hören. Wenn ich eine Karte schreibe, schreibe ich eine Karte – ohne nebenher an meine morgige Tagesplanung zu denken. Fokus ist eine mächtige Fähigkeit.

Tag 144: Ich mache generell nicht mehr so viel. Ich sage öfter Nein. Nein, das könnte ich jetzt nur mit einem Schlafmangel und einem Energy Drink machen und das will ich nicht. Nein, ich will mit Dir keine Powersession machen, die nur auf Kaffee beruht, sondern lieber langsam und beständig arbeiten. Nein, ich rede nicht noch drei Stunden mit Dir, weil Du mir Energie nimmst statt mir welche zu geben.

Tag 166: Manchmal finde ich es interessant, wieviel Platz Koffein früher in meinen Gedanken hatte. Jeden Tag habe ich an Energy Drinks gedacht. Wann ich den nächsten trinken kann. Ob er wohl gut reinkicken wird. Ob ich mir heute einen mehr als sonst gönnen soll, weil heute so ein anstrengender Tag ist. Heute laufe ich nur noch selten überhaupt am Koffein-Regal im Rewe vorbei. Aus den Gedanken, aus den Augen, aus meinem Körper.

Tag 170: Es ist der 18. August 2024. Seit einem halben Jahr habe ich keine Energy Drinks mehr getrunken. Die Kaffeetassen kann ich an einer Hand abzählen. Und Cola habe ich nur einmal bestellt, weil Wasser in München einfach teuer ist. – Ausrede Ende.

Es ist der 18. August 2024. Mein Leben fühlt sich gerade unfassbar anstrengend an. Ich habe das Gefühl, machtlos zu sein und nichts kontrollieren zu können. Ich bin unendlich erschöpft. Atmen, Schlafen, Planen, Lesen, Stille, Musik, Wald, Stadt – nichts hilft. Außerdem habe ich die krassesten Kopfschmerzen seit langem und eine Autofahrt vor mir. Ich brauche jetzt einfach eine Cola. Ein paar Schlucke vor der Fahrt. Und nur ein paar Schlucke während der Fahrt. Und zuhause ist der halbe Liter leer. Ich weiß genau, es wird nicht bei der einen bleiben. Auch wenn ich mich aktiv dagegen entscheide, verliere ich doch früher oder später die Kontrolle. Jede Restriktion kommt in Kontrolllosigkeit zurück. Egal ob mit Essen, Schlaf, Sex oder Koffein.

19. August 2024: Mein Leben fühlt sich gerade unfassbar anstrengend an. Ich habe das Gefühl, machtlos zu sein und nichts kontrollieren zu können. Ich bin unendlich erschöpft. Und die Arbeit stresst mich gerade so sehr. Ich habe ewig keine Mittagspause mehr gemacht. Jetzt laufe ich die 200 Meter zum Lidl und kaufe mir eine Cola. Die Cola ist jetzt gesund, weil eine Mittagspause gesund ist und ich die ohne Cola nie gemacht hätte. Auch wenn es nur sieben Minuten sind. Die zählen. Sieben Minuten Pause. Sieben Minuten Cola auf ex.

20. August 2024: Mein Leben fühlt sich gerade unfassbar anstrengend an. Ich habe das Gefühl, machtlos zu sein und nichts kontrollieren zu können. Ich bin unendlich erschöpft. Heute muss es zweimal ein halber Liter Cola sein.

21. August 2024: Cola reicht mir nicht mehr. Heute gibt’s das erste Red Bull seit Februar. Und später noch ein weißes Monster. Ich genieße es sogar ein bisschen.

22. August 2024: Das halbe Jahr ohne Koffein erscheint mir nur noch verschwommen. Klar möchte ich irgendwann wieder dahin zurück. Aber nicht jetzt. Jetzt ist gerade alles so anstrengend und stressig und wenn Koffein es ein bisschen weniger anstrengend macht, konsumiere ich es.

23. August 2024: Ein bisschen verurteile ich mich schon. Ich habe so lange durchgehalten und jetzt bin ich wieder an demselben Punkt wie im Februar. Ich fühle mich schuldig, wie ich mit meinen Energy Drinks im Rewe an der Kasse stehe. Nicht anderen Personen gegenüber. Sondern mir selbst. Ich habe einen inneren Konflikt zwischen „Ich bin es mir wert, gesund zu sein“ und „Ich will jetzt einfach mal ein paar leichte Momente“. Einen inneren Konflikt zwischen „Ich vertraue meiner Energie, dass sie mein Leben leicht macht“ und „Nur Energy Drinks machen mein Leben jetzt leicht“. Einen inneren Konflikt zwischen „Ich kann einfach aufhören in diesem Moment“ und „Ich brauche das jetzt mal ein paar Monate“.

24. August 2024: Heute fühle ich mich gescheitert. Was war aus meinem Ziel von Februar geworden: „Neben dem offensichtlichen Grund, dass dosenweise Koffein, Taurin und Aspartam nicht gerade gesund für meinen Körper sind, wollte ich damit auch wieder lernen, auf meine eigene Energie zu vertrauen. Weitere Konsequenzen: Weniger Angstzustände wegen Koffein als Hochsensible, mehr Fokus auf ausreichend Schlaf und ein bisschen mehr Geld im Portemonnaie.“ Hat ja super geklappt, denke ich, während ich an meinem Monster nippe. Ich bin gut darin, mich zu verurteilen. Doch dass ich es ein halbes Jahr, 170 Tage lang, geschafft habe, dafür habe ich mir nicht auf die Schulter geklopft. Ich habe mich nicht für meine Erkenntnisse und Fortschritte gefeiert. Ich war nicht stolz auf mich, dass ich überhaupt angefangen habe, mit dem Koffein aufzuhören. Ich vergebe mir. Ich vergebe mir, auch wenn ich nicht das Gefühl habe, dass es irgendwas bringt.

25. August 2024: Folgende Situation: Ich bin unterwegs und muss in jeder Sekunde am Tag und in der Nacht nur meinen kleinen Finger in meine Tasche ausstrecken, um die Monsterdose zischen zu lassen. Entgegen aller Erwartungen und Vorhaben tue ich es aber nicht. Das überrascht mich selbst.

26. August 2024: War das gestern wieder Tag eins meines Koffeinentzuges? Heute habe ich auf jeden Fall Kopfschmerzen. Und zwar nicht zu knapp. In meiner Tasche ist immer noch die Monsterdose. Ich kann sie nicht verschenken. Ich mag sie aber gerade auch nicht trinken. Die Chancen, dass sich das noch ändert, stehen allerdings sehr gut. Es ist gerade nicht mein Anspruch, gar kein Koffein zu trinken. Vielleicht wird es heute eine Cola. Und vielleicht ist das der Fortschritt. Cola statt Energy Drink. Vielleicht trinke ich aber auch einen Energy Drink und der Fortschritt ist, dass ich mich nicht dafür verurteile. Vielleicht ist der Fortschritt, dass ich gegen mich handle und mir vergebe. Dass ich mich auch liebe, wenn ich Entscheidungen treffe, die nicht gut für meine Gesundheit sind. Dass ich jetzt mein Bestes gebe. Und wenn heute mein Bestes zwei Energy Drinks ist und morgen mein Bestes ein Energy Drink ist und übermorgen 3 Cola – dann liebe ich mich mit allem, was gerade in mir ist.

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