Wie ich erkannte, dass ich die Träume einer anderen träumte und wie ich Frieden in einer Schokoladenpizza fand.

Als ich das erste Mal beruflich alleine nach München fahren musste, habe ich die ganze Zugfahrt geweint. Ich liebte meinen Arbeitsalltag in Offenbach und wollte nicht weg von dem Ort, an dem ich mich jeden Tag so wohl, gesehen und gefördert fühlte. Ich hatte auch Angst, die Stadt zu verlassen. Das letzte Mal, dass ich außerhalb von Hessen geschlafen hatte, war vor Corona gewesen. München kam mir vor wie Australien.

Ganz alleine war ich nicht, denn ein Kollege von mir besuchte mit mir die Weiterbildung. Er hatte Freunde in München und war schon einen Tag früher losgefahren. Ich saß alleine im ICE und heulte, als würde ich meinen Arbeitsplatz nie wieder sehen. Am Münchner Hauptbahnhof angekommen war meine Angst groß und mein Selbstbewusstsein klein. Ich fühlte mich unfähig, den Weg zum Hotel mit der U-Bahn zu finden und stieg in das erstbeste Taxi. Meinen Koffer schob ich schnell in eine Zimmerecke und schloss die Hoteltür ganz schnell wieder. Wenn ich nicht hinschaute, war ich vielleicht gar nicht in München.

Im Seminarhaus setzte ich mich direkt zu meinem Kollegen. Es dauerte keine fünf Minuten, bis sich eine Frau, die ein paar Jahre älter als ich war, neben mich setzte. Allein ihre Anwesenheit löste großen Stress in mir aus. Ich war froh, dass ich meinen Namen noch wusste und aussprechen konnte. Bereits am ersten Tag brach ich vor ihr in Tränen aus. 12 Tage später hatte ich eine neue Freundin. Wir buchten uns ein weiteres gemeinsames Seminar in München, 9 Monate später.

Ich habe nicht viele Freunde. Wie eine Freundschaft über 400 Kilometer hinweg funktioniert, wusste ich nicht. Wir hatten nicht jeden Tag Kontakt. Doch jedes Mal, in dem eine neue Sprachnachricht auf meinem IPhone aufblinkte, ging es mir ein bisschen besser. Meine einstige Angst vor München wich Vorfreude auf das Wiedersehen. Je näher das zweite Seminar rückte, desto mehr schwelgte ich in Erinnerungen. Wie ich neben meiner München-Freundin im Seminar sitzen und süße Hundebilder anschaute. Wie wir in der Mittagspause bei dm die Zeit vergaßen und die obligatorischen fünf Minuten zu spät kamen. Wie wir freitagabends Pizza ins Hotel bestellten und irgendeine dubiose Tanzsendung herunterluden.

Ich erinnerte mich gern an all diese Momente zurück und stellte mir vor, wie es auch beim zweiten Mal so sein würde. Ich malte mir schon aus, was ich anhaben, sagen und fühlen würde, bevor ich überhaupt in den Zug gestiegen war. Meine Vorstellungen von DEM perfekten Abend in München wurden immer größer. Gossip Girl in München sollte es sein. Erst ein teures Musical, am liebsten Dirty Dancing, mit Champagner und Trüffeln. Danach ein exklusiver Club, in den wir nur reinkamen, weil meine Freundin Kontakte hatte. Und zum Schluss eine wilde Taxifahrt mit lauter fremden Menschen. Ich wollte leben. So viel wie möglich in den zwei Seminarwochen. Da wollte ich nichts dem Zufall überlassen und probierte mich im Manifestieren. Jeden Abend spielte ich vor dem Einschlafen die schillerndsten München-Szenarien in meinem Kopf durch. Wie wir uns die Nasen an den Schaufenstern in der Maximilianstraße platt drückten. Wie wir im Stadion auf dem Eis Schlittschuh liefen. Wie wir in der U-Bahn Leute kennenlernten, die plötzlich anfingen zu singen und zu tanzen. Wie wir lachten, 24/7 in bester Laune waren und nichts unsere Harmonie und unseren Frieden zerstören konnte. Ich hielt an meinen Tagträumen fest und freute mich so sehr, als endlich der Tag meiner zweiten Reise nach München gekommen war.

Es war ein äußerst verschneiter Dezembermorgen. So verschneit, dass mein Zug Ewigkeiten im Tunnel feststeckte. Ich kam zu spät ins Seminar und auf meinen Namensschild stand Mariella Lisa Löw. Aber ich saß neben meiner München-Freundin. Als wir abends ins Theater gingen, war ich so müde, dass ich mehrmals fast auf der kalten Sitzbank eingeschlafen wäre. Am nächsten Morgen besorgte ich mir den ersten Energy Drink seit einem halben Jahr und im Seminar gab es mehr Einzelaufgaben als Plaudergelegenheiten.

Dafür planten wir den Freitagabend episch. Eine Freundin meiner Freundin hatte tatsächlich eine Karte zu einem exklusiven Shoppingevent bekommen. Designerklamotten bis zu 90 Prozent reduziert. Danach noch Kino und in der Rooftop-Bar was trinken. Ich wähnte mich die Woche über doch wieder in meiner verdrehten Gossip-Girl-Welt. Während unsere Dozenten von Meinungsbeiträgen und Gerichtsberichten sprachen, sah ich mich ein Prinzessinnenkleid für die Hochzeit meiner Cousine auswählen. Ich drehte meinen Kuli wie ich bald mein Kleid drehen würde.

Den ganzen Freitag über waren meine Freundin und ich trotz des echt trockenem Seminarthemas namens Gemeindehaushalt bestens drauf. Egal wie viele Nullen die Zahlen hatten, die wir besprachen, wir sahen das Ende schon kommen: Im Shoppingparadies. Um 17.30 Uhr sollte Schluss sein. Wenn ich eins an den Weiterbildungsmöglichkeiten liebte, was nicht mit München als Standort zu tun hatte, dann war es, dass sie pünktlich endeten. Während ich in meinem Arbeitsalltag zuhause nie planen konnte, wann ich Feierabend machte, schien es auf dem Seminarplan schön fest geschrieben zu sein. Bisher wurden die Zeiten auch immer eingehalten. Doch an meinem manifestierten Märchenfreitag überzogen wir fast eine ganze Stunde. Als meine Freundin und ich uns schließlich durch die dunklen und zugeschneiten, vereisten Straßen schleppten, waren wir völlig erledigt und erschöpft von dem ganzen Lernstoff. Von den Wochenendaufgaben gar nicht zu sprechen. Die Freundin meiner Freundin war schon längst im Shoppingparadies angekommen und schickte sekündlich Sprachnachrichten, die mit „Woow“ endeten. Unser Weg zum Hotel war so glatt, dass ich mehrmals fast hingefallen wäre. Ich war frustriert, irgendwie doch wieder angstvoll und ein bisschen so wie früher. Blödes München, zuhause ist es doch schöner. Ich überlegte, ob ich nicht einfach im Hotel bleiben wollte, falls ich heil in mein Zimmer schlittern würde. Doch meine Freundin überredete mich. Also pfiff ich mir den vierten Energy Drink dieser Woche rein. Ich spürte, wie sich mein Körper nach nur vier Tagen an das Koffein, Taurin und vermutlich noch weitaus schlimmere Inhaltsstoffe gewöhnte. Ich wurde zwar wacher, aber der Augenaufreiß-Effekt war bereits verschwunden.

Auf dem Weg zum Auto meiner Freundin wäre ich schon wieder beinahe gestürzt. Für München wurden so viele Glatteis-Warnungen rausgegeben, dass es eigentlich Wahnsinn war, in den kleinen Citroen zu steigen. Wir fuhren mit 5km/h auf der Hauptstraße, wobei ich nach  einem Bordell Ausschau hielt. Das exklusive Prada-Shopping sollte nämlich in einem unscheinbaren Gebäude dahinter steigen. Als wir in die Parklücke schlitterten, war ich froh, den Himmel noch sehen zu können. Dann aber siegte die Aufregung, dass ich jetzt wirklich gleich zwischen Gucci und Chanel stehen und mir die Kleider vermutlich auch leisten konnte.

Als die Freundin meiner Freundin ihren Kopf aus der Ladentür steckte, glühte sie bereits vor Enthusiasmus. Das stachelte meinen Hype weiter an. Endlich liefen wir durch die unscheinbare weiße Tür. Es dauerte einen Moment, bis ich mich an die Wucht des Raumes gewöhnt hatte. An den Wänden hingen Kleider, die länger waren als mein Leben. Überall gab es Kleiderständer mit Röcken, Anzügen und Kostümen. Auf den riesigen Tischen stapelten sich T-Shirts, Tops und Jeans mit Schriftzügen wie „Chloé“, „Burberry“ und „Louis Vuitton“. Dazu Berge von Schuhen, Pelzmänteln, Taschen…Mitten in dem unüberschaubaren Raum gab es eine Theke mit Prosecco, Shots und wer weiß was noch alles. Eine hübsche Frau bot uns Kleidersack, Getränk und Stilberatung an. Ich fühlte mich wie erschlagen.

Mit einem Schlag wurde mir klar, dass das nicht meine Welt war. Es klang so schön: Heute gehe ich exklusiv shoppen und bin wie Blair Waldorf. Wünscht sich das nicht jedes Mädchen, das Gossip Girl gesehen hat? Meine Freundin zog begeistert den Reißverschluss einer Pelzjacke hoch und begutachtete ihren flauschigen Oberkörper im übergroßen Spiegel. Ich nicht. Die ganze Woche, eigentlich die ganzen 9 Monate seit meinem ersten Seminar in München, hatte ich mich auf diesen Freitagabend gefreut. Jetzt fragte ich mich: Wozu das alles? Ich ging doch auch zuhause nie shoppen. Mein Kleiderschrank hatte sich ohne Prada nie unvollständig angefühlt. Es war nicht mein Traum, auf den ich mich gefreut hatte. Vielleicht war es der Traum meiner Freundin gewesen. Ich freute mich auch mit ihr und lachte, während sie eine viel zu große Pelzmütze aufsetzte. Gleichzeitig spürte ich einen Trauerkloß in meinem Hals. Ich träumte Träume, die gar nicht meine waren, ohne es zu wissen. Ich wusste nicht, was wirklich meine Träume waren.

Der geplante Kinobesuch fiel flach, weil wir so lange in dem Shopping-Store blieben, bis die Verkäuferin uns sagte, wenn wir jetzt nicht gingen, würden wir eingeschlossen. Meine Freundin schleifte vier prall gefüllte Tüten hinaus. Ich lief mit weniger neben ihr her, als ich gekommen war. Mit einem Traum weniger. Immer noch war es mehr Schlittern als Laufen. Ausgehungert ließen wir den Citroen zur nächsten Pizzeria rollen. Eine Pizza Funghi später hatte ich mich mit der ungeplanten Entwicklung meines Freitagabends abgefunden. Erschöpft, aber satt und glücklich, rutschte ich ein Stück auf dem großen Stuhl nach unten und hörte meiner Freundin beim Dummzeug-Babbeln zu. Das Schöne war, dass sie nicht wirklich eine Antwort auf ihren Wortschwall von mir erwartete. Sie wollte einfach nur ein paar Worte loswerden und ich musste nichts weiter tun als in der Pizzeria zu sitzen. Ich genoss die Verbundenheit, die ich zu ihr, zu dem Moment, und irgendwie auch zu mir spürte. Für einen Augenblick war es nicht notwendig, irgendwas zu denken, zu sagen oder zu träumen. Ich konnte einfach nur sein. Der Moment war mir genug, auch ohne Prada-Kleid und One-Night-Stand. Ich war mir genug. Das hier war schöner als jede Vorstellung, die ich mir im Vorhinein ausgemalt hatte. Für ein zufriedenes Gefühl brauchte ich kein Gossip-Girl. Meine Freundin gegenüber von mir sitzen zu sehen reichte.

Plötzlich kam unsere Kellnerin mit den Worten „Ein Gruß aus der Küche“ und einer übergroßen Schokoladenpizza an unseren Tisch. Knackiger Pizzateig, Schokosoße, Himbeeren, Schokostreusel. Wenn ich zuhause vom Pizzaessen in München statt von einer wilden Nacht geträumt hätte, hätte sie so ausgesehen. Wir hypten das Ding. Völlig zurecht. Eigentlich wäre es völlig angebracht, jeden Moment in meinem Leben so zu hypen, denn jetzt ist alles da, was ich brauche, um zufrieden zu sein. Als wir nach mindestens einer Viertelstunde voller Ohhs und Wows den ersten Bissen nahmen, glaubte ich, an einem Zuckerschock zu sterben. Wenigstens wäre mein letzter Atemzug dann glücklich und genussvoll gewesen.

Irgendwann fuhren wir zurück zum Hotel. Auf einen Absacker in die Bar wollten wir doch noch gehen. Wir standen schon im Fahrstuhl, als meine Freundin sagte: „Willst Du das wirklich?“ Es war das erste Mal, dass ich mich traute, ehrlich zu antworten. Weil ich zuvor die Erfahrung gemacht hatte, was nicht mein Traum war. Das war zwar schmerzhaft, brachte mich aber ein Stück zurück zu mir. Und so gingen wir um kurz vor Eins nüchtern schlafen. Ich fühlte mich besser als Blair Waldorf. Reicher als Serena van der Woodsen. Ich fühlte mich wie ich selbst.

Was hat wohl dazu geführt? Dass ich die Vorstellung vom perfekten Abend losgelassen habe. Dass ich akzeptiert habe, wo ich war (in der Pizzeria) und dort das Schöne gefunden habe: Die Verbundenheit zu meiner Freundin, die zwar die ganze Zeit da war, die ich aber erst durchs Loslassen meiner idealen München-Freundschaft und dem perfekten Freitagabend wahrgenommen habe.

Zufrieden mit mir und der Welt bin ich eine Woche später aus München abgereist. Ich glaubte ganz fest daran, dass meine Freundin auch weiterhin meine Freundin bleiben würde. Die Verbindung zu ihr war besonders für mich. Für sie auch, das hatte sie mir gesagt. Anders als nach dem letzten Seminar haben wir bis heute kein einziges Wort mehr miteinander geschrieben. Nicht, weil wir Beef hätten. Sondern weil der Moment vorbei ist. Er war wundervoll, hat mir so viel Kraft geschenkt. Aber er ist vorbei und wir haben uns nichts mehr zu sagen. Es ist, als hätten wir die Seelenaufgabe unseres Zusammentreffens erfüllt. Auch, wenn ich wirklich nichts mehr von ihr gehört habe, glaube ich, dass sie das auch so sieht. Ich bin ihr dankbar für unsere gemeinsame Reise. Für meine Entwicklung, die ich durch sie machen durfte. Und für die Erkenntnis, dass manche meiner Träume nicht wahrhaftig von mir kommen, ich aber gleichzeitig auch gar keine Träume brauche, um mich friedvoll und verbunden zu fühlen. Ich brauche nur Akzeptanz. Träume, Vorstellungen und den ganzen Rest kann ich loslassen.

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