Ich will so viele Chancen wie möglich nutzen. Doch nützen mir auch ungenutzte Chancen?
Beim ersten und einzigen Mal, als ich meinen Onkel und meine Cousine auf einer Familienfeier gesehen habe, habe ich nicht die Chance genutzt, sie kennenzulernen. Als mein Schwarm am Ende der Party minutenlang allein am Ausgang gestanden hat, habe ich nicht die Chance genutzt, ihn anzusprechen. Bei der Auswahl meines Themas für meine Bachelorarbeit habe ich nicht die Chance genutzt, über das zu schreiben, was mich in meinem Herzen bewegt.
Da sind aber auch viele kleinere Momente, in denen ich nicht die Chance genutzt habe, sie für mich groß zu machen. Unzählige Wochenenden, die ich nicht zum Schreiben genutzt habe. Unzählige Situationen, in denen ich nicht gesagt habe, wie ich die Lage sehe. Unzählige Augenblicke, in denen ich Angst statt Liebe gewählt habe.
Was also tun? Atmen, Akzeptieren, Verantwortung für die verpasste Chance übernehmen, Loslassen. Selbstwert stärken, mir Unterstützung holen, achtsam sein und bei der nächsten Chance meine Komfortzone verlassen. Meine Schwierigkeit dabei? Nicht die Reue, die in so vielen Kalendersprüchen angeprangert wird: „Man bereut nur das, was man nicht getan hat.“ Wenn ich nachts im Bett liege und nicht einschlafen kann, trifft auf mich eher ein anderes Sprichwort zu: „Anstelle von Schäfchen zähle ich gelegentlich ungenutzte Chancen.“ Wenn ich an verpasste Gelegenheiten denke, fühle ich mich nämlich unendlich leer. Keine Scham, keine Reue, keine Trauer. Nur eine gähnende Leere in mir. Das Gefühl, dass ich unfähig bin, zu erleben statt nur zu überleben. Das Gefühl, dass mir das Leben nur passiert, anstatt dass ich mir mein Leben selbst erschaffe. Leere statt Lebendigkeit. Und der Gedanke, dass es jetzt eh egal und zu spät ist.
Da gibt es Erinnerungen an einen Sommer, der nie verging. Ein halbes Jahr, das ich mit 12-Stunden-Arbeiten pro Tag ohne bezahlte Überstunden in einer Sechs-Tage-Woche verbrachte. Auf dem Weg ins Großraumbüro stand ich stundenlang im Stau, drinnen hatte ich einen Aufgabenzettel für mindestens drei Personen und den Feierabend verbrachte ich damit, an alles zu denken, was ich heute nicht geschafft hatte und morgen irgendwie nachholen musste. Jedes Mal, wenn ich die Tür hinter mir zuzog, nahm ich mir vor, am nächsten Tag zu sagen, dass es viel zu viel Arbeit ist, dass ich nicht mehr kann, dass ich wenigstens ein einziges Mal nach acht Stunden nachhause gehen möchte. Gleichzeitig wünschte ich mir jedes Mal, wenn ich ein „Guten Morgen“ rauspresste, unsichtbar zu sein, noch schneller arbeiten zu können und mich von einem Menschen zu einer Maschine zu entwickeln. Ich wollte die Verantwortung für meine Situation übernehmen, sagte mir 1000 Mal, dass ich entscheide, was ich tue und ging mit den besten Absichten für mich ins Büro. Doch der Teil in mir, der dazugehören und in Verbindung gehen wollte, die People-Pleaserin in mir und meine Angst vor Ablehnung waren stärker. Irgendwann fühlte ich mich wie mein eigener Dementor. Ich saugte mir selbst mein Glück aus. Freude waren für mich nur noch sechs schwarze Buchstaben auf weißem Hintergrund. Im Herbst wurde ich in ein anderes Büro versetzt und schwor mir, nie mehr wiederzukommen.
Ein Jahr später. Ich schalte mein Navi an, das die Route in meinen nie endenden Sommer noch kennt. Vielleicht werde ich im Stau stehen. Vielleicht werde ich spontan nochmal die Arbeit anderer übernehmen. Sicher werde ich Überstunden machen. Niemand zwingt mich dazu, ins Auto zu steigen. Ich könnte genauso gut in mein neues Büro gehen, in das ich gewechselt bin. Ich atme. 5 Sekunden ein. 5 Sekunden aus. Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist, wie es ist. Ich übernehme die Verantwortung für all meine Handlungen, so feige einige auch gewesen sind. Ich lasse sie los. Heute wähle ich neu. Heute hole ich keine verpasste Chance nach. Heute stärke ich meinen Selbstwert. Ich bin es mir selbst wert, mir Unterstützung zu holen. Unterstützung von einer Kollegin, die überhaupt nicht weiß, dass sie mich unterstützt. Unterstützung von meinen Coaches, die gerade nicht bei mir sind, aber in meinem Kopf sitzen und mich anfeuern. Unterstützung von meinem Körper, der für mich ist, egal wie sehr ich gegen ihn bin. Heute bin ich achtsam. Vielleicht sehe ich eine neue Chance. Eine Chance, die ohne meine verpassten Chancen existiert. Vielleicht auch nicht. Heute warte ich nicht auf eine Chance. Heute gehe ich aus meiner Komfortzone raus, weil ich es will. Ich entscheide es für mich, ungeachtet der Umstände.

Gerne würde ich mit Mut in mein altes Büro gehen. Der ist aber gerade nicht da. Ungeachtet der Umstände – dann eben ohne. Ich gehe mit klopfendem Herzen, zitternden Händen und Angst – aber ich gehe. Drinnen sehe ich meinen alten Platz: Riesiger Holztisch, darauf ein riesiger Stapel aus Zeitungen und riesige Bildschirme. Ich sehe mich vor einem Jahr: Wie ich zu dem schwarzen Drehstuhl hinlaufe, meinen schwarzen Rucksack auf den Boden werfe und schwarze Gedanken auf meiner Stirn erscheinen. Ich habe zu wenig Erfahrung. Ich bin nicht gut genug. Ich gehöre nicht dazu.
In der Gegenwart gehe ich auf mein Vergangenheits-Ich zu. Ich setze mich auf meinen alten Platz. Für einen Moment bin ich die Lisa von vor einem Jahr. Ich spüre meine Angst, abgelehnt zu werden. Von anderen. Und von mir selbst. Dann atme ich tief. Ich entscheide mich dafür, dass ich jetzt wachse. Dass ich für mich mehr bin als letztes Jahr. Ich bin nicht meine Angst, sondern ich habe Angst. Und das ist okay. Ich habe Angst vor mir. Ich habe aber auch Respekt vor mir. Weil ich weitergemacht habe, ohne zu wissen, warum oder wofür. Langsam stehe ich auf. Schaue mich in dem Großraumbüro um. Ich nehme den Raum wahr. Ich nehme mich selbst wahr. Ich nehme mich in dem Raum wahr. Egal wo ich bin, ich bin immer ein Teil dessen, was mich umgibt. Ich bin immer ein Teil meiner Umwelt. Egal was mein Kopf mir erzählt. Ich bin ein Teil dieses Raumes. Ein Teil dieser Welt.
Ich fange an zu arbeiten. Irgendwann kommen meine alten Kollegen. Wir umarmen uns. Ein halbes Jahr lang haben wir es nicht geschafft, uns zur Begrüßung in die Augen zu schauen. Jetzt lege ich meine Arme um ihren Rücken. Wir reden über Situationen und Sachverhalte. Ich sage meine Meinung dazu. Sie teilen ihre mit mir. Sie unterstützen mich. Ich unterstütze sie. Wir geben aufeinander acht. Die Überstunden halten sich in Grenzen. Zum Feierabend trinken wir Kaffee und Limonade. Ich vergesse, dass ich Liebe wählen wollte. Dass ich stark und achtsam sein wollte. Dass ich mir in Gedanken gut zureden wollte. Weil ich zum ersten Mal in diesem Rahmen wirklich präsent bin.
Abends im Bett denke ich an die verpassten Chancen, die ich im Kontrast zu meiner gelebten Präsenz heute viel deutlicher spüre als letztes Jahr. Ein Tag wiegt nicht ein halbes Jahr auf. Aber diesen einen Tag gab es nur, weil es auch das halbe Jahr gab. Es geht für mich nicht darum, jede Chance zu nutzen. Sondern noch schneller, bewusster und entschiedener meine verpassten Chancen loszulassen. Damit ich nicht meine Vergangenheit oder meine Vorstellung von einem idealen Moment, einer neuen Chance, lebe, sondern die Gegenwart in voller Präsenz erlebe, wie ich gerade bin. Und gerade denke ich, dass ich nicht so sinnvoll schreibe, wie ich gerne würde. Vielleicht verpasse ich hier gerade die Chance, einen unterstützenden Blogartikel zu schreiben. Vielleicht führt mich das Verpassen im Kontrast zurück in die Präsenz. Vielleicht nützt auch eine ungenutzte Chance.