Wie sich mein Selbstbild ohne Selfie und Handyspiegel verändert hat
3 Monate aufs Handy verzichten? 3 Monate lang auf der Bahnfahrt zur Arbeit keine Insta-Storys anschauen. 3 Monate lang auf dem Nachhauseweg nicht noch schnell mit der besten Freundin über die neuesten Gerüchte telefonieren. 3 Monate lang keine WhatsApp-Nachrichten von Kunden, vom Chef oder von der Familien-Gruppe empfangen. Vielleicht sehen sich manche danach. Doch sobald ihr Handy kaputt geht, sorgen sie spätestens nach 3 Tagen für Ersatz.
Zugegeben – 3 Monate ohne Handy würde ich momentan wohl auch nicht aushalten. Ich brauche einfach meine täglichen Sprachnachrichten, möchte Erinnerungsfotos von Sonnenuntergängen festhalten und selbst meine Sportkurse muss ich über eine App buchen. Doch wegen eines (un)glücklichen Zufalles habe ich letztes Jahr 79 Tage ganz ohne Handykamera, Sprachmemos und Anruf-Funktion gelebt.
An Tag 1 war ich mir sicher: Am leichtesten werde ich den Verlust von Selfies verkraften. Nicht meine Oma anrufen zu können ist weitaus schlimmer, als mein Gesicht nicht vor eine Kameralinse halten zu können. Zumal ich nicht zu der Sorte Mensch gehöre, die jeden Tag ein Foto macht.
An Tag 3 wollte ich beim Spazierengehen allerdings nicht meine Oma anrufen. Mein dringendster Wunsch war, meine Handykamera zu öffnen, um sehen zu können, wie ich gerade aussehe. Kilometerweit gab es keine menschlichen Augen, die mich hätten sehen können. Nur gelegentlich blickten mich ein paar Vögel an, als ich durch den herbstlichen Wald lief. Trotzdem stresste es mich mit jedem Schritt mehr, nicht zu wissen, ob meine Wimperntusche verschmiert war. Ob der Wind meine Haare zerzaust hatte. Ob ich nicht doch wie von Zauberhand endlich ein dünnes, symmetrisches Gesicht bekommen hatte. Ich wollte nicht mit meiner Oma reden. Ich stand zwischen Bäumen und wollte nur wissen, ob mein Aussehen dem Schönheitsideal entsprach.
An Tag 11 blieb ich auf der Arbeit länger auf der Toilette als sonst. Nicht, um wie früher verstohlen eine Sprachnachricht für meine Freundin aufzunehmen. Sondern, um mich noch ein paar Momente länger im Spiegel anschauen zu können. Ich hatte einen Bad Hair Day. Augenringe. Und meine Backen waren immer noch zu fett.
An Tag 33 blieb ich vor einem Kundentermin länger im Auto sitzen als sonst. Nicht, um mit einem Kollegen über die neueste Planung zu telefonieren und mich mit ihm dabei kaputt zu lachen. Sondern, um mich im Rückspiegel noch ein paar Momente länger zu betrachten. Keine verwischte Wimperntusche, aber ich sollte unbedingt mal wieder meine Augenbrauen zupfen. Mein Kinn formte sich zu sehr zum Doppelkinn. Und symmetrisch waren meine Gesichtshälften auch noch nicht geworden.
An Tag 48 war ich irgendwie froh, dass ich meine Oma nicht anrufen konnte. Denn dadurch konnte ich im Wald schneller laufen, meine Puste fürs Tempo anstatt fürs Reden nutzen. Hoffentlich verbrannte ich mehr Kalorien als sonst, damit mein Gesicht beim nächsten Blick in den Spiegel endlich dünner war.
An Tag 61 war ich der festen Überzeugung, dass Sprachnachrichten und Telefonate die größten und sinnlosesten Ablenkungen des 21. Jahrhunderts sind. Wenn ich stundenlang mit Freunden oder Verwandten übers Handy redete, hatte ich schließlich gar keine Zeit mehr, im Fitnessstudio 30 Kilo schwere Hanteln zu heben oder einen Videokurs zum Gesichtsyoga zu machen. Und von alleine würde sich das Fett aus meinem Gesicht, eigentlich aus meinem ganzen Körper, ja wohl nicht verabschieden.
Bis Tag 79 verstand ich nicht, dass es in den 3 Monaten nicht darum ging, die Handykamera loszulassen. Vielmehr ging es darum, einen Glaubenssatz loszulassen: „Alles wird besser, wenn mein Gesicht dem Schönheitsideal entspricht.“ Dann bin ich angekommen bei mir, bei meinen Freunden und meiner Familie.
Ich merkte nicht, dass ich mich auf dem Weg dorthin immer mehr von alldem entfernte. Statt mich mit Menschen zu verbinden, hatte ich meinen Körper mit meinem Handy verbunden: In der Handykamera, in MyFitnessPal, im Schrittzähler. Statt meine Abende mit Pizza-Partys und Konzerten zu verbringen, reservierte ich jeden Abend für endlose Workouts, 20.000 Schritte und hatte spätestens um 21 Uhr nur noch fürs Bett Energie. Statt tiefsinnigen Gesprächen mit meinen Freunden führte ich hasserfüllte Gespräche mit mir selbst. Manchmal wirkt es so, als bestünden Freundschaften nur aus tausenden Fotos. Und ich bin auf keinem drauf.
Und an Tag 80? Als ich mein neues Handy nach 3 Monaten endlich in den Händen hielt, rief ich nicht zuerst meine Oma an. Ich machte auch nicht als Erstes eine Sprachnachricht. Die Wahrheit ist: Die erste Tat, die ich mit meinem neuen Handy verbrachte, war ein Selfie. Und es blieb nicht bei einem. Erst an Tag 87 rief ich meine Oma an.
Erst als ich ihre Stimme hörte, machte es Klick bei mir. Ich spürte einen Stich in meiner Brust. Endlich fand ich die Kraft, meine Seele nicht länger an ein Schönheitsideal zu verkaufen. Endlich konnte ich das Aussehen meines Gesichtes loslassen. Endlich schenkte ich sie wieder meiner Oma. Und allen Menschen, die mein Leben bereicherten.

Ich schaffte es, mein Streben nach der idealen Gesichtsform loszulassen, obwohl ich fortan wieder 24/7 Zugriff auf eine Handykamera hatte. Obwohl ich mich wieder sekündlich anschauen konnte, war ich freier, verbundener und friedlicher als je zuvor. Du musst also nicht 3 Monate auf Dein Handy oder Deine Handykamera verzichten, um den Kampf mit Deinem Körper loszulassen. Du kannst es jetzt sofort tun. Triff eine starke Entscheidung, schreibe sie dort auf, wo Du sie jeden Tag siehst. Und dann richte Deine Aufmerksamkeit auf alles, was Du mehr in Deinem Leben haben möchtest. Du entscheidest. Jetzt und immer.