Wie ich aktuell mit mir umgehe, wenn ich mal wieder mehr Mensch als Maschine bin
Im Mai bin ich auf einem Seminar. Ich habe eine genaue Vorstellung davon, wie ich dort aussehen
und auftreten möchte. Makellose Haut ohne einen einzigen Pickel, glänzendes Haar ohne eine einzige
abstehende Strähne, knackiger Po ohne eine einzige Cellulitis. Mit Liebe auf alles reagierend, was
auch immer geschehen möge. Mit weitem Blick alles im Raum sehend, was auch immer sich zeigen
möge. Mit fokussierten Gedanken und klarem Ziel, jeder Moment in Präsenz, was auch immer mich
ablenken möge. Ich möchte für mich das beste aus mir und meiner Möglichkeit, an diesem Seminar
teilnehmen zu können, rausholen. Deswegen habe ich hohe Erwartungen an mich selbst.
Ein gutes Ergebnis fängt bekanntlich mit einer guten Vorbereitung an und so überlasse ich nichts dem
Zufall. Ich habe gut zwei Monate vorher gebucht und so stellte ich meinen Plan 10 Wochen vorher
auf. Ich definierte smarte Ziele, visualisierte, wie sich mein Alltag mit meinen neuen Gewohnheiten
veränderte und lud mir eine App herunter, die mich jeden Tag an meine Aufgaben erinnerte. Bei all
der Perfektion plante ich auch das Scheitern. Ich bin noch heute der Meinung, dass es grob fahrlässig
wäre, ohne Fehler zu planen. Ich bin äußerst diszipliniert, strukturiert, organisiert – you name it – aber
ich bin ein Mensch und keine Maschine. Zu einem guten Plan gehört für mich deswegen nicht nur ein
Zielmanagement, sondern auch ein Fehlermanagement.
Da gibt es die kleinen Verfehlungen. Sowas wie „heute kein Gemüse gegessen“. Da kann ich atmen,
einen großen Schluck Wasser trinken, nochmal atmen, mir in der App-Statistik anschauen, wie an wie
vielen Tagen ich sonst Gurken, Tomaten und Paprika geschnippelt habe und mir einen genauen Plan
machen, welches Gemüse ich am nächsten Tag wann essen werde. Dann gibt es mittelschwere
Rückschläge. Sowas wie „heute keinen Sport gemacht“. Da muss ich auch erstmal atmen, weil es sich
anfühlt, als hätte mein Körper einen Automatismus, der nach 24 Stunden Pause die Cellulitis nur so
sprießen lässt. Emotionen im Körper wahrnehmen, benennen, bewusst da sein lassen. Den
Rückschlag in Perspektive setzen, realistisch sehen, dass ein Tag weniger nicht bedeutet, dass ich
mein Ziel Knackpo nicht erreiche. Mir für morgen ein Workout raussuchen, worauf ich richtig Bock
habe.
Doch dann gibt es auch diese Momente, in denen ich alles komplett hinschmeißen, das Seminar
stornieren und für immer unter meiner Bettdecke verkriechen will. Sowas wie „Mit Hass auf etwas
reagiert“. Oder „mit Scheuklappen durch die Gegend gelaufen und das wichtigste übersehen“. Oder
„so abgelenkt gewesen, dass der ganze Tag verschwendet ist“. Momente, in denen mich bewusstes
Atmen mehr provoziert als reguliert. Momente, in denen ich nicht ich sein will. Wahrscheinlich werde
ich solche Momente haben, solange ich lebe. Es geht nicht darum, alles zu tun, um nie mehr
Tiefpunkte zu erreichen. Sondern es geht darum, wie ich mit den Tiefpunkten umgehe und mit mir als
Mensch darin. Wie schnell ich mich erhole. Resilienz, aber noch mehr als das.
Unlängst hatte ich so einen Moment. Der Moment dauerte an sich zwei Minuten. Zwei Minuten, in
denen ich mich vor mir selbst verschlossen habe. Zwei Minuten, in denen meine Scham für mich so
stark war, dass ich lieber sämtliche meiner Emotionen ausgesperrt habe anstatt die Scham zu fühlen.
Zwei Minuten, in denen ich glaubte, kein Mensch, sondern ein Monster zu sein. Doch nach zwei
Minuten war es nicht vorbei. In meinem Kopf war der ganze restliche Tag gelaufen. Unmöglich, jetzt
noch normal weiterzumachen. Ich versuchte, das Geschehene zu kompensieren. Doch in meinem
Kopf tat ich nicht genug. Meine Stimme verurteilte mich weiter: „Dein ganzer Fortschritt der letzten
Monate ist mit einem Schlag zunichte.“ Ich hörte auf zu fühlen und so sehr ich versuchte, in meinen
Körper zu spüren – ich nahm nichts in mir war. Ich war leer. Nach außen hin lebte ich meinen Alltag,
sogar mit guten Leistungen im Job. Doch innen erzählte meine Stimme: „Du hast Dein Leben verwirkt
– mal wieder. Wozu noch irgendwas tun? Du machst es Dir doch sowieso selbst kaputt.“
Je mehr ich versuchte, irgendetwas zu fühlen – und sei es nur kaltes Wasser beim Duschen – desto
weniger fühlte ich meinen Körper als Teil von mir. Ich war in der wirklich sehr privilegierten Lage,
wofür ich rückblickend auch äußerst demütig bin, eine Person zu haben, der ich mich mitteilen
konnte. Doch das war so neu für mich. Ich wollte es sehr und ich öffnete mich unter Tränen auch sehr
weit – doch es reichte nicht ganz.

Es reichte nicht ganz, um mich wieder vor mir selbst zu öffnen. Um mich selbst wieder in meinen
Körper reinzulassen. Auch trotz regelmäßig 8 Stunden Schlaf spürte ich keine Entspannung, sondern
war 24/7 angespannt und merkte, wie ich ununterbrochen meinen Kiefer gegen meine Zähne
drückte. Mir war nicht nach Reden, aber auch nicht nach Schweigen. Aber das Atmen klappte etwas
besser. Nach einer Woche und zwei Tagen spürte ich zum ersten Mal wieder Angst. Enge Kehle, Kloß
im Hals, flacher Atem. Ich hatte Angst vor einem weiteren schwierigen Moment, einem weiteren
„Rückfall“ wie es nannte. Ich wollte es „Vorfall“ nennen, nach dem Motto „Es ist, wie es ist“, „Ich
übernehme Verantwortung“ und jetzt kreiere ich daraus etwas, was mich nach vorn bringt.
Stattdessen sagte meine Kopfstimme: „Du bist nicht stark genug. Du schaffst das nicht.“ Ich versuchte,
mir meinen Handlungsrahmen etwas weiter, aber nicht zu weit zu stecken. Weiter, um mehr Raum
zum Leben und Ausprobieren zu haben. Nicht zu weit, um nicht den Rückfall herbeizuführen.
Es funktionierte. Ich ging über meine Wohlfühlgrenze, über meine Komfortzone, über meine selbst
aufgestellte Verhaltensregel hinaus. Mit Herzklopfen, Angst und dem zeitweisen Gefühl, dass es sich
gerade doch zum Rückfall entwickelt. Ich ließ die Kontrolle ein kleines Bisschen mehr los als sonst.
Bewusst. Aber nicht zu viel – nicht, dass ich ins Unbewusste und komplett Zügellose überging. Es war
maximal unangenehm und ich hatte maximal kein Bock. Aber etwas in mir war stärker als mein Ego.
Und so machte ich ganz allein für mich die Erfahrung, wie das Grau zwischen meinem Schwarz und
Weiß für mich aussieht. Nicht glamourös. Nicht wie ein Sieg oder ein Fortschritt. Aber auch nicht
düster. Keine Katastrophe oder ein Rückschritt. Aber auch nicht luftleer. Nicht ohne Konsequenz.
Es war, als würde ich mir zögerlich, aber bestimmt, selbst die Hand reichen. Mir selbst den Raum
geben, mich für mich zu entscheiden. Auf eine leise, aber klare Art. Und ich drückte zu. Nicht fest,
aber entschlossen. Da wusste ich, dass mein weiterer Weg in der nahen Zukunft nicht leicht sein
würde, aber dass ich mir genug vertrauen konnte, um ihn zu gehen. Dass ich mir selbst einen Weg
aufzeichnen konnte. Und genau das mache ich gerade.
Ich habe keine Vorstellung mehr von dem Weg. Ich habe auch nur noch wenig Vorstellung davon, wie
das Seminar im Mai sein wird. Aber ich weiß, dass ich fähig bin, mir einen Weg zu gestalten, der mir
und meinen Bedürfnissen entspricht. Zum ersten Mal geht es nur um mich. Nicht um meine
Vorstellung von mir, wie ich zu sein habe.