Warum ich gerne gebraucht werde, jedoch lieber jemanden will, der mich nicht braucht, aber von ganzem Herzen will.

Ich werde gerne gebraucht. Als leistungsstarke Kollegin, die anderen hilft, ihre Seiten zu füllen. Als schnörkelige Feder und Geschenkebeauftragte für Gruppengeschenke. Als offenes Ohr für emotionale Notsituationen. Ich mag es, wenn nichts ohne mich läuft. Weil ich die einzige bin, die wirklich jeden Rechtschreibfehler entdeckt. Weil ich die einzige bin, die Du eine halbe Stunde vorher anrufen
kannst, um eine Jumpingstunde zu vertreten. Weil ich die einzige bin, die sich auch Deine 90-minütige Sprachnachricht bis zum Schluss mit voller Präsenz anhört.

Gebraucht zu werden gibt mir das Gefühl, dass mein Leben einen Sinn hat: Anderen zu helfen. Es gibt mir auch die Anerkennung, die ich mir oft selbst nicht gebe. Es gibt mir einen Grund, weiterzumachen. Die Vorstellung, dass nichts ohne mich läuft gibt mir aber auch das Gefühl, dass ich niemals eine Pause machen darf. Nur mit schlechtem Gewissen schlafe, den es könnte mich ja in der Zeit doch jemand brauchen. Es gibt mir ein Gefühl von Verbundenheit, nur aufgrund meiner Leistung
für andere. Es hält mich in der Leistung und spornt mich an, noch besser zu werden. Noch mehr zu geben. Doch wie das so ist im Leben, hat nichts nur eine Seite.

Zur Anspannung gehört die Entspannung. Zum Geben gehört das Nehmen. Zum Gebraucht-Werden gehört das Nicht-Gebraucht-Werden. Jahrelang war Entspannung für mich nur etwas für Looser und Faulenzer. Keine Pause zu machen trotz Überstunden und Erschöpfung war für mich ein Zeichen meiner Charakterstärke. Ich begriff nicht, warum ich Urlaub nehmen sollte – und nahm einfach keinen, bis er mir zwangsverordnet wurde. Doch Pause und Urlaub sind noch kein Garant für Entspannung. Wenn meine Seele nicht offen ist, sich selbst baumeln zu lassen, dann kann ich noch so
lange nichts tun außer die weiße Wand anzustarren – entspannt werde ich dadurch nicht. Das kann sogar das Gegenteil auslösen, weil sich zu dem Nichtstun Gedanken wie „Du bist gerade so hart wertlos, weil Du nichts leistest und weil Du niemandem hilfst, obwohl Du doch gebraucht wirst“ gesellen. Mein Weg raus aus 24/7 Anspannung und Leistung? Wahrnehmen, dass ich nicht entspanne. Mich JEDEN Tag fragen, wo ich zumindest für einen Atemzug ansatzweise entspannt war.
Wenn ich einen Moment gefunden habe, versuchen, das Gefühl größer und den Moment länger zu machen. Wenn nicht, morgen nochmal versuchen. Übermorgen. Nach acht Monaten habe ich zum ersten Mal wirklich was gefunden. Ein Aufatmen, weil ich gerade mal unbeobachtet war.

Auch Nehmen ist für mich mehr als Dankesblumen in eine Vase zu stellen. Wobei es mir schon schwer fällt, etwas zu nehmen, wenn ich vorher etwas gegeben habe. Aber einfach zu empfangen ohne Gegenleistung – das ist unangenehm im Sinne von Ich-möchte-sofort-weglaufen-und-Dir-1000-Gefallen-erfüllen. Mein Weg raus aus der Scham vorm Annehmen? Ein Umfeld aus Menschen, die mir
jeden Tag ehrlich aus dem Herzen sagen, wie wertvoll ich bin, einfach weil ich bin. Mich mit anderen zu verbinden, ihnen zu sagen, wie wertvoll sie für mich sind und mich in einem Bruchteil in ihnen zu entdecken. Diesen Bruchteil untersuchen, tief in mir graben und suchen, was mich für mich wertvoll
macht. Mir meiner selbst bewusst werden. Mich selbst feiern. Mein größter Fan werden. Und darüber noch zwanzigtausend Tonnen Selbstvergebung schütten.

Nicht-Gebraucht-Werden ist für meinen Verstand wohl das einfachste, für mein Herz allerdings das schwierigste. Ich werde zum Beispiel nicht gebraucht, um ein Haus zu bauen, weil ich zwei linke Hände habe. Sicher werde ich auch nicht gebraucht, wenn der Computer abstürzt, weil ich selbst nur
hoffe, dass die IT-Abteilung erreichbar ist und mit meinen „Plötzlich war alles schwarz“-Erklärungen etwas anfangen kann. Oder wenn der Chordirigent ausfällt, dann kann ich nichts außer ziellos mit meinen Armen herumfuchteln. Aber auch in den Bereichen, in denen ich glaube, gebraucht zu werden, werde ich nicht wirklich gebraucht. Mag sein, dass die Zeitung ohne mich mehr Werbeanzeigen drucken muss, aber erscheinen wird sie trotzdem. Mag sein, dass die Geburtstagskarte ohne mich nicht die rührseligste aller Zeiten wird, aber irgendjemand wird schon Happy Birthday draufschreiben. Mag sein, dass ohne mich die Jumpingstunde ausfällt, aber
irgendeine andere Sportstunde wird stattfinden. Ich werde nicht gebraucht. Außerdem: Ich bin ersetzbar. Wenn ich nicht da bin, wird ein neuer Trainer kommen, eine neue Freundin, eine neue Redakteurin. Wenn ich morgen wegziehe und alle Kontakte abbreche, werden alle, die mit mir zu tun
hatten, auch ohne mich klarkommen. Für andere bin ich irgendjemand, der ihnen gerade hilft – doch für mich bin ich die Welt. Ich bin mein Lebensmittelpunkt.

Ich dachte, dass ich das Gefühl, gebraucht zu werden, loslassen muss. Doch in Wahrheit hat mich das Loslassen des Nicht-Gebraucht-Werdens frei gemacht. Denn wenn ich nicht gebraucht werde, kann ich mich entspannen und nehmen. Ich erkenne: Ich brauche mich. Ich brauche die anderen nicht und
die anderen brauchen mich nicht. Aber vielleicht geht es gar nicht ums Gebraucht-Werden. Vielleicht will ich lieber jemanden, der mich nicht braucht, aber von ganzem Herzen will.

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