Warum mir Zeitmanagement Zeit gestohlen statt genommen hat.
Ich habe nie Zeit. Wie andere zehn Stunden schlafen, stundenlang auf Instagram versacken und sich beim Essen hinsetzen können, ist für mich ein Rätsel. Ich bin froh, wenn ich auf sechs Stunden Schlaf
komme, die Insta-Story von meinem Lieblings-Creator anschauen und zwischen Tür und Angel überhaupt was essen kann.
Weil ich keine Zeit habe, habe ich auch kaum Freunde. Schon zweiminütige Sprachnachrichten dauern mir an den meisten Tagen zu lang. Ich habe keine Zeit für rote Ampeln, langsame Spaziergänger und lange Supermarktschlangen. Jede Minute meines Tages ist bis auf die Sekunde genau durchgeplant. Abweichungen ab einer Minute kann ich nur schwer ertragen. So wie bei
meinem mittwöchlichen Fitnesskurs. Er beginnt um Punkt 19 Uhr. Ich arbeite meistens bis kurz vor knapp und hechele dann in höchstem Eiltempo zur Sporthalle. Immer bin ich um spätestens 18.55 Uhr da, damit es ohne Pause direkt mit den Liegestützen, Klappmessern und Side Planks losgehen
kann. Soweit die Theorie.
In der Praxis ist mein Sportraum des Öfteren bis um fünf nach sieben randvoll mit schwitzenden Menschen vom vorherigen Kurs belegt. Ich muss mich mit meinen Teilnehmern dicht gedrängt im kahlen Gang quetschen und warten, bis sich jemand erbarmt, die Tür zu öffnen und uns Zugang zu gewähren. Bereits um 18.58 Uhr wechselt mein Kopf in den Drama-Modus. Egal wie sehr ich mir
jedes Mal vornehme, ruhig zu bleiben – ich sehe rot, wenn die Tür zubleibt. Mein Atem wird schneller. Mein Herz klopft schneller. Ich spüre, wie das Blut in meinen Kopf und in meine Hände schießt. Ablenkungen machen mich nur noch wilder. Die Treppe hoch und runter laufen stachelt meine Wut mit jeder Stufe mehr an. Mich mit Menschen zu unterhalten bringt mich mit jedem Wort
mehr dazu, meine Hand an die Türklinke zu legen und einfach reinzuplatzen. Selbst die Herzatmung bringt mich nicht runter, sondern bringt mein Herz ins Rasen, endlich was zu tun.
Gleichzeitig weiß ich, dass meine Wut völlig übertrieben ist. Spätestens um fünf nach wird die Tür aufgehen und ich werde immer noch gut 50 Minuten für meinen Fitnesskurs haben. Aber ich habe sowieso nie Zeit und jetzt wird mir so unnötig Zeit gestohlen, die ich nutzen könnte für eine gelungene Sportstunde. Ich muss jede Sekunde nutzen, kann mir nicht so ein Lotterleben mit freien Minuten erlauben. Ich klaue niemandem Minuten, bin immer pünktlich da und pünktlich weg. Es ist
doch auch eine Sache von Respekt, mir nicht meine Zeit zu klauen. Wenn ich doch nur die
Pünktlichkeit loslassen könnte. Wer bin ich ohne meine Pünktlichkeit? Niemand, der ich sein möchte!
Ein Jahr später. Es ist Mittwochabend, 18.59 Uhr. Ich schaue auf mein Handy und sehe die Zahlen der Uhrzeit. Um mich herum fünfzehn Teilnehmer, die sich auf eine schweißtreibende Stunde mit mir freuen. Ich grinse in mich hinein. Ich weiß, dass ich die Stunde gut anleiten werde – ganz gleich, ob ich 60, 53 oder 45 Minuten Zeit habe. Ich weiß, was ich zu geben habe: Fachliches Wissen, jahrelange
Erfahrung, völlige Präsenz für jeden, ansteckende Motivation und Liebe aus meinem Herzen. Ich mag die Person, die ich jetzt gerade bin.

Obwohl ich dachte, dass ich die Pünktlichkeit loslassen muss, war es etwas anderes, was ich in den vergangenen 365 Tagen gelernt habe. Meine Reise ging von „Ich habe nie Zeit“ zu „Ich bin es mir wert, Zeit zu haben“. Ich bin es mir wert, acht Stunden zu schlafen, weil ich mein Geist danach viel klarer und produktiver ist, ich mehr und besser leisten kann. Ich bin es mir wert, im Sitzen zu essen, weil ich dann zur Ruhe komme, neue Kraft tanke und bewusst im jetzigen Moment lebe. Ich bin es mir wert, fünf Minuten von meinem Zeitplan abzuweichen, weil ich weiß, was ich kann. Weil ich mir vertraue, dass ich auch mit weniger Zeit für mich erfolgreich sein kann. Weil ich meinen Selbstwert nicht mehr an Zeit knüpfe, sondern an die Liebe, die ich gebe. Ich habe erkannt, in wie vielen Momenten ich für mich gut genug bin und Frieden in mir gefunden. Und wer in Frieden lebt, hat kein
Drama, keine Wut, keine Ungeduld mehr. Es ist egal, ob ich um 19 Uhr, um 19.05 Uhr oder um 19.30 Uhr anfange. Denn früher habe ich eine Minute für meinen Ärger groß gemacht. Heute mache ich eine Minute für meine Liebe groß.
Das heißt nicht, dass ich 24/7 in Frieden und Liebe rosa Elefanten zähle. Das heißt, dass ich die rosa Elefanten zwischen den grauen erkenne. Und wenn da keine sind, mache ich mir eben selbst welche.